Manchmal erscheint einem die Zukunft nicht erlebenswert: Die Karriere hat ein jähes Ende genommen; die Belastungen der endlosen häuslichen Krankenpflege sind nicht mehr auszuhalten; höllischer Liebeskummer frisst sich durch den Körper; die Band ist hoffnungslos am Ende … Die Gründe, aus denen Leben beendet werden sollen, sind zahllos. Ehe in diesem Buch jedoch jemand vom Hochhausrand in die Tiefe geht, kommen weitere Personen mit der gleichen Absicht hinzu. Für alle eine Chance, erst mal über den eigenen Tellerrand zu gucken.
Lesedauer drei Minuten
Jess
Bevor ich in die Besetzer-WG ging, hatte ich nie die Absicht gehabt, rauf aufs Dach zu steigen. Ehrlich nicht. Ich hatte an diese Sache mit Topper’s House gar nicht gedacht, bis ich anfing, mich mit diesem Typen zu unterhalten. Ich glaube, er mochte mich, was nicht viel heißen will, da ich wohl die einzige Frau unter dreißig war, die noch gerade stehen konnte. Er gab mir eine Kippe und sagte, er hieße Bong, und als ich ihn fragte, warum er Bong heißt, sagte er, das wär deshalb, weil er sein Gras immer mit einer Bong rauchen würde. Und ich sag, dann heißen alle anderen hier Tüte? Aber er nur, nee, der Typ da hinten heißt Mike der Mongo. Der da drüben heißt Pfütze. Und der da hinten, das ist Nicky der Scheißer. Und so weiter, bis er alle im Zimmer durchhatte, die er kannte.
Aber die zehn Minuten, die ich mit Bong redete, machten Geschichte. Gut, nicht Geschichte wie 55 v. Chr. oder 1939. Nicht historische Geschichte, es sei denn, einer von uns ginge hin und erfände eine Zeitmaschine oder würde verhindern, dass England von der Al-Qaida heimgesucht wird oder so. Aber wer weiß, was aus uns geworden wäre, hätte Bong nicht auf mich gestanden? Denn bevor er anfing, mich voll zu quatschen, war ich drauf und dran, nach Haus zu gehen, und Maureen und Martin wären jetzt höchstwahrscheinlich tot, und … na ja, alles wär anders. Als Bong mit seiner Aufzählung durch war, sah er mich an und sagt: Du willst doch wohl nicht rauf aufs Dach, oder? Und ich dachte mir, mit dir jedenfalls nicht, Kiffersack. Und er: Denn ich kann den Schmerz und die Verzweiflung in deinen Augen sehn. Zu dem Zeitpunkt war ich schon ziemlich hacke, daher bin ich mir jetzt im Nachhinein ziemlich sicher, dass er in meinen Augen nur sieben Bacardi Breezer und zwei Dosen Special Brew sehen konnte. Ich sagte bloß, ach ja? Und er, ja, weißte, ich bin hier als Selbstmörder-Wache eingeteilt, um auf Leute zu achten, die bloß hier sind, weil sie nach oben gehn wollen. Und ich so, was ist denn oben los? Und er lachte und sagt, du machst wohl Witze. Mensch, das hier ist Topper’s House. Hier bringen sich doch dauernd Leute um. Und ich wär nie darauf gekommen, hätte er das nicht gesagt.
Alles passte plötzlich zusammen. Ich war zwar gerade im Begriff gewesen, nach Haus zu gehen, konnte mir aber nicht vorstellen, was ich machen sollte, wenn ich dort wäre, und ich konnte mir nicht vorstellen, am nächsten Morgen aufzuwachen. Ich wollte Chas, aber er wollte mich nicht, und ich begriff plötzlich, dass es mit Abstand das Beste wäre, mein Leben nicht unnötig in die Länge zu ziehen. Beinahe hätte ich gelacht, es passte so gut: Ich wollte meine Lebenszeit möglichst kurz halten, und ich war auf einer Party in Topper’s House, und dieses Zusammentreffen war einfach zu viel. Es war wie eine Botschaft von Gott. Na schön, es war enttäuschend, dass Gott mir nicht mehr zu sagen hatte als „Spring vom Dach“, aber ich machte dem lieben Gott keine Vorwürfe. Was sollte er mir sonst schon raten?
In dem Moment konnte ich die ganze Last spüren – die Bürde der Einsamkeit, von allem, was schief gelaufen war. Es kam mir heldenhaft vor, die letzten paar Stockwerke bis zum Dach des Gebäudes hochzusteigen und diese Last mit mir zu schleppen. Runterspringen erschien mir die einzige Möglichkeit, sie loszuwerden, die einzige Möglichkeit, sie zu meinem Vorteil statt zu meinem Nachteil einzusetzen; ich kam mir so beladen vor, dass ich mir sicher war, ich würde in null Komma nichts unten aufschlagen. Den Weltrekord im Vom-Hochhaus-Fallen brechen.
Gründe zur Demotivation bietet der Arbeitsalltag in Hülle und Fülle, und „solche“ Tage kommen leider zwangsläufig vor. Wenn alles zu viel ist: einen Tag wegtauchen. Es ist zwar weder legal noch kollegial, und du musst es mit deinem Gewissen abmachen. Aber einen Tag aus der Rolle fallen, kann einen dazu bringen, sich wieder als Individuum und nicht als Rollenfüllmaterial zu fühlen. Das geht auch Vorgesetzten so; deshalb besteht durchaus die Möglichkeit, dass einem solchen Fehlverhalten mit empathischer Toleranz begegnet wird.
Vorausgesetzt, du machst es ganz, ganz selten.