Die Muschel by Burmester„Die Muschel“ von Denise Burmester, 2017

Verwehrt uns das Wissen um etwas die bezaubernde Wirkung einer phantasievollen Erklärung, die einem als Kind glaubhaft erschien? Sich auf erfundene Vorstellungen einzulassen gestattet uns gelegentliches Ausklinken, Abtauchen oder Davonschweben – alles, ohne den Boden der Realität unter den Füßen zu verlieren. Die folgende Geschichte von Denise Burmester las sie uns beim Freitagssalon am 25. August 2023 selbst vor.

Leserdauer drei Minuten

„Wenn man sich eine Muschel ans Ohr hält, dann kann man das Meer rauschen hören!“, sagte man mir. Ich war gleichzeitig erstaunt und auch neugierig. Wie sollte das Meer, das ganze weite Meer, mit all seinen Wellen und seinem Schaum und all seinen Unterwassertieren nur in eine kleine Muschel passen? Bestimmt, so dachte ich, würde die Muschel das Meer einfach imitieren wollen, um dessen Nachricht zu verbreiten. Als würde das Meer sprechen können und der Muschel leise alles erzählen. Alle alten Geschichten und Sagen. Von Seefahrern, Walen, von den Fischen und Wassernixen und vom großen Oktopus. Die Muschel würde es dann dem zuflüstern, der sie ans Ohr hielte. Ich wollte auch so eine Flüstermuschel. Irgendwann bekam ich eine große Muschel. Ich hielt sie an mein Ohr und hörte das Schäumen der Wellen, das Rauschen der Fluten und das Singen der Sirenen. Ich fühlte mich, als wäre ich am Strand. Ich schloss meine Augen und ich war da: Ich lief am Meer entlang und sah die Brandung. Die Flüstermuschel konnte es bewerkstelligen, dass ich ans Meer reisen konnte. In meinem Kopf, aber ich war da.

„Hallo, Muschel!“, flüsterte ich leise in sie rein. Sie musste mich ja hören können!

Und diese Geschichte hätte Ewigkeiten so weitergehen können. Mein kleines Ich mit einer Flüstermuschel als Freund. Und man würde sich leise Geschichten über das Meer erzählen.

Die Wahrheit war, dass ich wusste, dass die Muschel gar nicht flüstern konnte. Wie sollte sie das Rauschen des Meeres in sich speichern können? Sie war doch kein Aufnahmegerät. Außerdem war eine Muschel doch das glibberige Zeug in der Hülle. Ich hielt mir nur die tote Hülle einer Muschel ans Ohr. Die Leute sammeln tote Hüllen am Strand. Die Erwachsenen, die mir erzählten, dass man das Meer rauschen hören könne, sahen mich erfreut mit großen Augen an, wenn ich die Muschel ans Ohr hielt und kurz so tat, als würde ich all das glauben. Sie freuten sich und fanden es niedlich, wie ich dem durch sie suggerierten Irrglauben aufgesessen war. Wahrscheinlich dachten sie sich: „Ist sie nicht niedlich, wie sie die Muschel ans Ohr hält und glaubt, dass man das Meer rauschen hören kann? Ist das nicht niedlich, wie sie das wirklich denkt und alles glaubt?“.

Ich habe es in meinem Leben immer wieder erfahren, dass Dummheit eine erwünschte Niedlichkeit bei Kindern ist. Ich hielt irgendwann eine Tasse ans Ohr. Auch die Tasse rauschte. Niemand konnte mir erzählen, dass sich die Tasse am Meer befand oder dass sich das Meer in der Tasse befinden würde. Ich wölbte meine Hände und hielt mir diese ans Ohr. Auch das erzeugte ein Rauschen. Man musste sich nur etwas einigermaßen Geschlossenes ans Ohr halten und es würde ein Rauschen erzeugen. Mit dem Meer hatte das nichts zu tun. Das fand ich bereits als kleines Kind heraus.

Die Erwachsenen lügen, weil sie es niedlich finden, immer wieder die gleichen Lügen zu erzählen.

Wenn ich am Strand bin, dann sammele ich Muscheln. Und wenn ich eine große Muschel finde, dann halte ich sie an mein Ohr und lausche den Geschichten, die sie mir zuflüstert. Mag sein, dass das physikalisch unmöglich ist. Mag sein, dass Muscheln gar nicht flüstern. Aber die Gefühle und die Geschichten, die in meinem Kopf dabei entstehen, die sind echt. Die Muschel kann mich ans Meer reisen lassen und alle Geschichten erzeugen, über die das Meer lange schwieg. Sie erzählt Geschichten von Piraten und Meerjungfrauen, von Wasserelfen und den bunten Schwärmen der Fische. Geschichten, die viele Erwachsene gar nicht mehr hören oder kennen.

Das ist nämlich das Niedliche an den Erwachsenen: Wie sie alles rationalisieren und gar nicht mehr an die Geschichten glauben, die ihnen die Muscheln zuflüstern.

Marcel Reich-Ranicki, der große Literaturkritiker, beantwortete die Frage nach möglichen Gemeinsamkeiten von Literatur und Werbung mit einem dezidierten „Werbung ist immer banal, Literatur nicht.“
Wir arbeiten für Geld in einer Branche, die zum primären Ziel hat, den Umsatz und das Einkommen der Kunden zu vergrößern. Punkt.
Nur weil du Techniken der Literatur in der Werbung anwendest, schaffst du keine Kunst.

Und gerade deswegen ist es wichtig, sich Träume, Vorstellungen, Utopien und Sinnlosigkeiten zu erhalten. Ulla Hahn erzählt das ergreifend in der Geschichte vom Buchstein.