Stechmücken sind die Pest! Oder? Nur mal vorgestellt, man wäre eine: Wie tickt man als Mücke? Oder als Forelle? Oder als Kind, als alter Mensch …? Empathie und Phantasie helfen dabei, sich in andere Existenzen einzufühlen. Ob wir damit richtig liegen – wer weiß? Beim Freitagssalon am 25. August 2023 las uns Denise Burmester ihre Geschichte dazu vor.
Lesedauer drei Minuten
Des Abends kamen sie an einen See. Der See roch nach Salbei. Als würde man einen Sud aus Salbei kochen und ihn trinken. Nun roch er nicht immer nach Salbei. Oft roch er nach Blei oder Kupfer, und nach Kupfer roch er auch nur an besseren Tagen. – Meist nach weit billigeren Materialien. Aber es gab diese Abende im Jahr, an denen der Himmel feurig loderte und purpurn über die Köpfe hinwegrannte und der Wind kühl mit den Blättern ein Versteckspiel begann, und an diesen Abenden roch der See unverkennbar nach Salbei. Alte Frauen krächzten manchmal: „Der See riecht nach Tod! Es schwimmen tote Seelen darin!“ Jedoch schwammen Fische darin, und solange Salbei nicht nach Tod riecht, roch auch der See nicht danach.
„Patsch!“ – Er hatte die Mücke erwischt, die sich an ihm gütlich tun wollte. Ein platter Mückenkörper klebte inmitten eines Fleckes aus seinem eigenem Blut an seinem Bein. „Als kleines Kind bin ich einmal in den See gefallen!“, kicherte sie. „Meine Eltern mussten mich rausziehen und schimpften fürchterlich!“. Er wedelte ein paar Mücken davon und kramte seinen Angelhaken heraus, welchen er mühsam an der Angelrute befestigte. „Ich war schon als Kind so unglücklich verliebt in dich und fühlte mich einsam. Dann kam ich immer hierher und suchte Trost. Und irgendwann machte es – Platsch! – und ich fiel, noch vor Liebeskummer weinend, ganz aus Versehen in den See. Das ist ulkig, oder?“. Er warf seine Angel aus. „Der See sieht jetzt anders aus als sonst.“, sagte sie. „Er ist ganz rot und Nebelschwaden steigen empor!“. Er schwieg. „Hörst du das? Es kommt Musik aus dem See!“ Sie rannte ans Ufer und schloss tänzelnd die Augen. Ihr Kleid flatterte im Wind. „Oh, sie singen! Sie singen! Hörst du sie lieblich singen? Sie singen:
Magst du uns feine Gaben geben?
Schließe deiner Augen drei
Bind‘ den Faden, den wir weben
Und die Seele werdet frei
Rote Sonne wandert balde
Über heißen Lebensschlund
Blaue Quelle, tief im Walde
Wiege auf dem Meeresgrund“
Der See leuchtete hell. Seine Oberfläche spiegelte den Mond. „Sie sagen, dass ich ihnen folgen muss!“ Und so stieg sie in den See hinein. Es dauerte nicht lange, da sah sie ein grelles Leuchten. Sie tauchte tiefer und erkannte eine riesige, helle Kugel aus Licht. Diese Kugel musste sie bestimmt sehr lieb haben, das wusste sie, und deswegen musste sie in die Kugel hineinschwimmen. Wohlige Wärme durchströmte sie und es schien eine riesige Explosion zu geben. Alles war in bunte Sterne und kreisrunde Blüten in allen Farben des Regenbogens getaucht. Einige davon strömten durch sie hindurch wie warmes Sprudelwasser. Überall waren bunte Sphären. Und erst jetzt bemerkte sie, dass sie selbst zu Wasser geworden war. Sie war leuchtendes Wasser. Beim nächsten Gefälle krachte sie als Wasserfall hinunter. Sie spürte einen Strudel, der sie zog. Sie verfestigte sich und schwamm schneller als zuvor. All die schönen Wasserpflanzen. Sie wurde hungrig. Da sah sie einen dicken Wurm und wollte nach ihm schnappen. Doch sobald sie das tat, empfand sie fürchterliche Schmerzen. Bald darauf jedoch stiegen Lichterblasen in ihr auf und sie wurde auseinandergerissen. Löste sich auf. Es war ihr, als wäre sie überall. Tausende Blasen im Farbentaumel. Aber dann wurde sie ruckartig aus den Sphären gezogen. Verfestigte sich.
Sie lag in den Armen ihrer Eltern und öffnete die Augen. „Dass du dich nicht erkältest! Trink Salbeitee!“, rief ihre Mutter. „Nein, ich kann jetzt fliegen!“, sagte sie und schloss ihre Augen. Sie flog davon.
„Der See ist jetzt so schön“, dachte sie, „ich muss an ihm tanzen!“. Und da tanzte sie über ihm fliegend. Und da entdeckte sie auch ihn wieder und wollte ihn begrüßen.
„Patsch!“ Er hatte wieder eine Mücke, noch in der Luft, geschnappt. Im blutgetränkten See schwamm seit Tagen der leblose Körper einer Frau.
Die alten Krähen krächzten: „Tod. Der See riecht nach Tod.“
Sich in eine andere, einen anderen versetzen zu können heißt Empathie, und sie ist eine der wichtigsten Eigenschaften im Mensch-Sein. Dein Leben wird reicher, wenn du ihr Platz einräumst, und du brauchst sie auch im alltäglichen Geschäftsleben: Jedes Verstehen der Motivation und der Zwänge des oder der anderen, führt schneller zum befriedigenden Resultat für beide.
Terry Pratchett hatte eine ähnliche Idee wie Denise, und er hat sie sehr zwangsläufig ausgestaltet.