Über 80 Darsteller haben im Laufe der zurückliegenden hundert Jahre in mehr als 200 Verfilmungen die Rolle des Sherlock Holmes gespielt, was der Romanfigur einen Eintrag im Guiness-Buch der Rekorde einbrachte. Der britische Autor, der diesen Detektiv mit seiner besonderen Kombinationsgabe ausgestattet hat, arbeitete zunächst als Mediziner und schrieb in seiner Freizeit u. a. Detektivgeschichten. Sherlock Holmes und sein Freund Dr. Watson wurden ab 1887 zu den Hauptfiguren darin, und ihre Beliebtheit bei den Leser*innen sorgte dafür, dass Sir Doyle seinen Lebensunterhalt bald danach mit Schreiben bestreiten konnte. Einen Ausschnitt aus dem dritten „Fall“ des findigen Kriminalistenteams las Jenny Jung beim Freitagssalon am 21. April 2023 vor.
Lesedauer sieben Minuten
„Nun, Watson“, meinte Holmes, als unser Besucher gegangen war, „was halten Sie von dem Ganzen?’“
„Ich werde daraus nicht klug“, antwortete ich offen. „Es ist eine ziemlich verworrene Sache.“
„Es stellt sich meist heraus“, entgegnete Holmes, „daß eine Sache um so einfacher endet, je komplizierter sie begonnen hat. Es sind die ganz gewöhnlichen Verbrechen, die wirklich rätselhaft sind, wie auch ein gewöhnliches Gesicht am schwersten zu identifizieren ist. Aber in diesem Fall muß ich schnell handeln.“
„Was haben Sie denn vor?“ fragte ich.
„Rauchen“, war die Antwort. „Das ist ein Problem für drei ganze Pfeifen, und ich bitte Sie, mich in den nächsten fünfzig Minuten nicht zu stören.“
Er rollte sich in seinem Sessel zusammen, die Knie bis zu seiner Habichtsnase hochgezogen; und da saß er nun mit geschlossenen Augen und der schwarzen Tonpfeife, die wie der Schnabel eines seltsamen Vogels aus seinem Gesicht hervorragte. Ich war überzeugt, daß er eingeschlafen sei, und nickte wohl selbst etwas ein, als er plötzlich wie ein Mann, der einen Entschluß gefaßt hat, aus seinem Sessel sprang. Seine Pfeife legte er auf den Kaminsims.
„Sarasate gibt heute nachmittag in der St. James‘ Hall ein Konzert“, sagte er. „Was meinen Sie, Watson, könnten Ihre Patienten Sie für ein paar Stunden entbehren?“
„Ich habe heute nichts mehr zu tun. Meine Praxis nimmt mich nicht allzusehr in Anspruch.“
„Dann setzen Sie lhren Hut auf und kommen Sie. Ich will erst einen Bummel durch die Stadt machen, unterwegs können wir etwas essen. Auf dem Programm steht hauptsächlich deutsche Musik, und das entspricht eher meinem Geschmack als die italienische oder französische. Sie ist introspektiv, und ich möchte mich introspektieren. Beeilen Sie sich!“
Wir fuhren mit der Untergrundbahn bis Aldergate, ein kurzer Spaziergang führte uns zum Saxe-Coburg Square, dem Ort der Handlung jener einmaligen Geschichte, die wir am Morgen gehört hatten. Das war ein winkeliger kleiner Platz von verblichener Eleganz. Durch vier Reihen zweistöckiger schäbiger Ziegelhäuser hatte man einen Ausblick auf ein kleines eingezäuntes Gehege, auf dem ein unkrautübersäter Rasen mit einigen Lorbeersträuchern einen schweren Kampf gegen die verschmutzte, smogschwangere Atmosphäre kämpfte. An einem Eckhaus zeigten drei vergoldete Kugeln und ein braunes Holzschild mit der Aufschrift Jabez Wilson, wo unser rothaariger Klient sein Geschäft betrieb. Sherlock Holmes blieb davor stehen und betrachtete es, den Kopf zur Seite geneigt, eingehend, wobei seine Augen zwischen den zuckenden Lidern blitzten. Dann schritt er langsam die Straße hoch, besah sich die Häuser eingehend und kam wieder zurück bis zu der Stra8enecke. Schließlich blieb er wieder vor dem Geschäft des Pfandleihers stehen, und nachdem er mit seinem Stock zwei- oder dreimal heftig auf das Pflaster geschlagen hatte, wandte er sich zur Tür und klopfte. Sie wurde sofort von einem aufgeweckt blickenden, glattrasierten jungen Burschen geöffnet, der Holmes bat einzutreten.
„Danke“, sagte Holmes, „ich wollte Sie nur fragen, wie man von hier aus zum Strand kommt.“
„Dritte rechts, vierte links“, antwortete der Gehilfe und schloß die Tür.
„Schlauer Bursche“, bemerkte Holmes, als wir weitergingen. „Meiner Meinung nach ist er der viertklügste Mann in London, und ich bin mir nicht sicher, ob er nicht sogar Anrecht auf den dritten Rang hat. Ich habe schon früher etwas über ihn gehört.“
„Offensichtlich“, sagte ich, „hat Mr. Wilsons Gehilfe beträchtlichen Anteil am Geheimnis der rothaarigen Liga. Sie haben sich nach dem Weg erkundigt, um ihn in Augenschein nehmen zu können.“
„lhn nicht.“
„Was dann?“
„Die Knie seiner Hosen.“
„Und was haben Sie da gesehen?“
„Das, was ich erwartet hatte.“
„Warum haben Sie auf das Pflaster geklopft?“
„Mein lieber Doktor, jetzt ist die Zeit für Beobachtungen, nicht für Gespräche. Wir sind Spione in Feindesland. Ein wenig kennen wir jetzt den Saxe-Coburg Square. Wollen wir uns nun die Gegend dahinter einmal genauer ansehen.“
Die Straße, in der wir uns dann befanden, als wir um die Ecke des verlassenen Saxe-Coburg Square gebogen waren, bot einen derart großen Kontrast zu ihm wie die Vorderseite eines Gemäldes zu dessen Rückseite. Es war eine der Hauptverkehrsstraßen, die den Verkehr aus der und in die City nach Norden und Westen leiteten. Die Fahrbahn war durch den unablässig in beiden Richtungen vorbeifließenden Verkehr verstopft, während die Bürgersteige von dem hastenden Strom der Fu8ganger schwarz waren. Man konnte sich kaum vorstellen, daß die Reihen dieser noblen und stattlichen Geschäfte an den unscheinbaren, verlassenen Platz grenzen sollten, den wir soeben hinter uns gelassen hatten.
„Lassen Sie mich mal überlegen“, sagte Holmes, blieb an der Ecke stehen und blickte die Straße hinunter. „Ich möchte mir die Anordnung der Häuser genau einprägen. Es ist eines meiner Hobbys, über London genau Bescheid zu wissen. Dort ist das Geschäft von Mortimer, dem Tabakhändler, dort ein kleines Zeitungsgeschäft, die Coburg-Filiale der City- und Vorortbank, das Vegetarierrestaurant und MacFarlans Wagenbaudepot. Das führt uns direkt zum anderen Block. Und nun, Doktor, haben wir unsere Arbeit getan, es ist Zeit für ein bißchen Erholung. Ein lmbiß und eine Tasse Tee und dann nichts wie auf ins Land der Geigen, wo alles Lieblichkeit, Empfindsamkeit, Harmonie ist und es keine rothaarigen Klienten gibt, die uns mit ihren Späßen quälen.“
Mein Freund war ein begeisterter Musiker und nicht nur ein begabter Künstler, sondern auch ein Komponist von großer Originalität. Den ganzen Nachmittag saß er glückversunken im Parkett der St. James‘ Hall, seine langen dünnen Finger gelegentlich sanft im Takt der Musik bewegend, wobei sein versunken lächelndes Gesicht und seine ausdrucksvollen, verträumten Augen Holmes dem Spürhund, dem unnachgiebigen, scharfsichtigen und bereitwillig helfenden Kriminalisten ganz und gar nicht entsprachen. Sein exzentrisches Wesen wurde von zwiespältigen Gefühlen beherrscht. Seine Exaktheit und seine unbarmherzige Intelligenz waren, so vermute ich, eine Reaktion auf die poetische und kontemplative Stimmung, die ihn gelegentlich heimsuchte. Er war sowohl äußerst träge wie auch sehr dynamisch, und am eifrigsten war er jeweils dann, wenn er mehrere Tage hintereinander in seinem Sessel gelungert hatte, von seinen Kompositionen und seltenen Buchausgaben umgeben. Und dann packte ihn plötzlich das Jagdfieber, und seine Geisteskraft erreichte jenen Grad der Intuition, daß ihn diejenigen, die ihn und seine Methoden nicht kannten, für einen Mann hielten, der nicht von dieser Welt war. Als ich ihn nachmittags in der St. James‘ Hall so in die Musik versunken sah, fühlte ich, daß all jenen eine schlechte Zeit bevorstand, die zu jagen er im Begriff war.
„Sie wollen zweifelsohne nach Hause gehen, Doktor“, bemerkte er. als wir uns erhoben.
„Ja, das wäre wohl angebracht.“
„lch allerdings habe noch einige Angelegenheiten zu erledigen, die mich ein paar Stunden in Anspruch nehmen werden. Dieser Fall vom Saxe-Coburg Square ist ernst.“
„Wieso ernst?“
„Ein ziemlich großes Verbrechen wird geplant. Ich habe Veranlassung, daran zu glauben, daß wir es noch rechtzeitig verhindern können. Aber da heute Sonnabend ist, wird die Sache kompliziert. Ich werde heute nacht Ihre Hilfe brauchen.“
„Um wieviel Uhr?“
„Zehn Uhr wird früh genug sein.“
„Ich werde um zehn in der Baker Street sein.“
„Sehr gut. Ach, Doktor, was ich noch sagen wollte, es könnte ein bißchen gefährlich werden, seien Sie deshalb so nett und stecken Sie sich den Armeerevolver in die Tasche.“
Er winkte mir zu, drehte sich auf dem Absatz um und war augenblicklich in der Menge verschwunden.
Ich halte mich nicht für dümmer als andere Menschen, aber jedesmal bedrückte mich ein Gefühl der eigenen Dummheit, wenn ich mit Sherlock Holmes zu tun hatte. Ich hatte gehört, was auch er gehört, nicht mehr gesehen, als er auch gesehen hatte, und doch war es ihm nach seinen Worten nicht nur klar, was geschehen war, sondern auch, was noch geschehen sollte, während mir der ganze Fall nichts weiter als verwirrend und grotesk erschien. Als ich zu meinem Haus in Kensington fuhr, dachte ich über alles nach, angefangen bei der ungewöhnlichen Geschichte des Abschreibens der Enzyklopädie bis zu unserem Besuch am Saxe-Coburg Square und den unheilverkündenden Worten, mit denen sich Holmes von mir verabschiedet hatte. Was bedeutete diese nächtliche Expedition, und warum sollte ich bewaffnet sein? Wohin würden wir gehen? Was sollten wir tun? Holmes hatte mir zu verstehen gegeben, daß dieser glattgesichtige Gehilfe des Pfandleihers ein furchtbarer Mensch war – ein Mann, der möglicherweise böses im Schilde führte. Zwar bemühte ich mich, das Geheimnis zu lösen, gab aber bald auf und schob die Sache von mir. Die Nacht würde schon Licht in das Dunkel bringen.
„Ich halte mich nicht für dümmer als andere Menschen …“ sagt Watson, und damit nimmt er die Gegenposition zu zu vielen Marketern und Werberinnen ein – hat es manchmal den Anschein. Es gibt Werbung, die beleidigend ist. David Ogilvy sagte dazu schon vor gut 70 Jahren: „The customer is not a moron. She’s your wife.“ Wahlweise auch Ehemann, Partnerin, Lebensabschnittsbegleiter oder Verlobte.
Wir können sicher sein, dass die Herren Holmes und Watson das Rätsel der Liga der Rothaarigen erfolgreich gelöst haben. Kurt Tucholsky beschreibt ein krachendes Scheitern beim Rätsellösen. Das hat auch seinen Reiz.