„Der Gesang der Flusskrebse“ von Delia Owens (2018)

Dass die Autorin nicht nur auf ihre Kenntnisse als Zoologin zugreifen kann, sondern auch auf die Erfahrungen, die sie mit 25 Jahren als Forscherin in der Kalahari – weit weg von der nächsten menschlichen Ansiedlung – gesammelt hat, ist sicherlich nicht unbedeutend für ihr Schreiben. Auch wenn es hier um einen schwer aufzuklärenden Mord in einem Marschgebiet North Carolinas geht. Viola Blumenröhr las uns den folgenden Ausschnitt beim Freitagssalon am 24. März 2023 vor.

Lesedauer acht Minuten

Für sein Schlussplädoyer hatte Eric Chastain eine Krawatte mit breiten goldenen und dunkelroten Streifen gewählt. Es herrschte gespannte Stille im Zuhörerraum, als er zur Geschworenenbank schritt und vor dem Geländer stehen blieb, um die Geschworenen ganz bewusst nacheinander anzusehen.

„Verehrte Geschworene, Sie sind Angehörige einer Gemeinde, Bürger einer stolzen und einzigartigen Stadt. Im vergangenen Jahr haben Sie einen Ihrer Söhne verloren. Einen jungen Mann, einen strahlenden Hoffnungsträger Ihres Heimatortes, dem ein langes Leben an der Seite seiner schönen …“

Kya konnte ihn kaum verstehen, während er erneut schilderte, wie Chase Andrews ermordet wurde. Sie hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt, das Gesicht in den Händen, bekam nur Bruchstücke seines Plädoyers mit.

„… zwei in dieser Gemeinde bekannte Männer haben Miss Clark und Chase im Wald gesehen … haben gehört, dass sie ,Ich bring dich um!‘ gesagt hat … Fasern einer roten Wollmütze auf seiner Jeansjacke … Wer sonst hätte dieses Halsband entfernen sollen … Sie wissen, dass diese Strömungen und Winde die Geschwindigkeit extrem erhöhen können … Aufgrund ihres Lebensstils wissen wir, dass sie durchaus fähig ist, nachts mit dem Boot unterwegs zu sein, im Dunkeln auf den Turm zu steigen. Es passt alles perfekt zusammen. Alles, was sie in jener Nacht getan hat, ist glasklar. Sie können und müssen die Angeklagte des vorsätzlichen Mordes für schuldig befinden. Danke, dass Sie Ihre Pflicht tun.“

Richter Sims nickte Tom zu, der aufstand und zur Geschworenenbank ging.

„Verehrte Geschworene, ich bin in Barkley Cove aufgewachsen, und als ich noch jünger war, sind mir die Schauermärchen über das Marschmädchen zu Ohren gekommen. Ja, sprechen wir’s aus. Wir haben sie Marschmädchen genannt. Viele tun das heute noch. Manche haben getuschelt, sie wäre halb Wolf, halb Mensch oder der Missing Link zwischen Affe und Mensch. Ihre Augen würden im Dunkeln glühen. Aber in Wahrheit war sie nur ein verlassenes Kind, ein kleines Mädchen, das sich allein im Sumpf durchschlug, hungrig und frierend, und wir haben ihr nicht geholfen. Mit Ausnahme von Jumpin‘, einem ihrer ganz wenigen Freunde, hat keine unserer Kirchengemeinden oder Bürgergruppen ihr Nahrung oder Kleidung angeboten. Stattdessen haben wir sie abgestempelt und abgelehnt, weil wir dachten, sie wäre anders als wir. Aber, Ladys und Gentlemen, haben wir Miss Clark ausgeschlossen, weil sie anders war, oder wurde sie anders, weil wir sie ausgeschlossen haben? Ich denke, hätten wir sie in unsere Mitte aufgenommen, dann wäre sie heute eine von uns. Hätten wir ihr Nahrung gegeben, Kleidung und Zuwendung, hätten wir sie in unsere Kirchengemeinden und Häuser eingeladen, wären wir heute nicht so voreingenommen ihr gegenüber. Und ich glaube, sie würde heute nicht hier sitzen, als Angeklagte eines Verbrechens. Die Aufgabe, über diese scheue, abgelehnte Frau zu urteilen, ruht auf Ihren Schultern, aber Ihr Urteil muss sich auf die hier vor Gericht dargelegten Fakten stützen, nicht auf Gerüchte oder Gefühle aus den letzten vierundzwanzig Jahren. Was sind die unstrittigen Fakten?“

Wie schon beim Staatsanwalt bekam Kya auch diesmal nur Fetzen von dem mit, was Tom sagte.

„… die Anklagevertretung hat noch nicht mal den Beweis erbracht, dass es sich tatsächlich um Mord handelt und nicht einfach um einen tragischen Unfall. Keine Mordwaffe, keine Spuren an Chase Andrews‘ Körper, die darauf hindeuten, dass er gestoßen wurde, keine Zeugen, keine Fingerabdrücke … Eine der wichtigsten bewiesenen Tatsachen ist Miss Clarks hieb- und stichfestes Alibi. Wir wissen, dass sie in der Nacht, in der Chase starb, in Greenville war … keine Beweise, dass sie sich als Mann verkleidete, mit dem Bus nach Barkley fuhr … Tatsächlich konnte die Anklagevertretung nicht nachweisen, dass sie in jener Nacht überhaupt in Barkley Cove war, konnte nicht nachweisen, dass sie am Feuerwachturm war. Ich wiederhole: Es gibt keinen einzigen Beweis dafür, dass Miss Clark auf dem Feuerwachturm war, dass sie in Barkley Cove war, dass sie Chase Andrews getötet hat … und der Kapitän, Mr. O‘ Neal, der seit achtunddreißig Jahren auf seinem Kutter Krabben fischt, hat ausgesagt, dass es zu dunkel war, um das Boot eindeutig zu erkennen. … Fasern an seiner Jacke, die sich schon seit vier Jahren dort befunden haben … Das sind unbestrittene Fakten. Keiner der Zeugen der Anklage konnte mit Sicherheit sagen, was er gesehen hat, nicht ein einziger. Dagegen ist sich jeder Zeuge der Verteidigung hundertprozentig sicher …“

Tom schwieg einen Moment, dann sah er die Geschworenen eindringlich an.

„Die meisten von Ihnen kenne ich recht gut, und ich weiß, dass Sie jedwede früheren Vorurteile gegen Miss Clark außer Acht lassen werden. Obwohl sie nur einen Tag in ihrem Leben zur Schule ging – weil die anderen Kinder sie schikaniert haben – hat sie sich selbst gebildet und wurde eine bekannte Naturkundlerin und Autorin. Wir haben sie das Marschmädchen genannt. Heute gilt sie in vielen wissenschaftlichen Institutionen als Marschexpertin. Ich glaube, Sie sind in der Lage, all die Gerüchte und Schauermärchen unberücksichtigt zu lassen. Ich glaube, Sie werden Ihr Urteil aufgrund der Fakten fällen, die Sie in diesem Gerichtssaal gehört haben, und nicht aufgrund der falschen Gerüchte, die Ihnen jahrelang zu Ohren gekommen sind. Es wird Zeit, dass wir dem Marschmädchen endlich Gerechtigkeit widerfahren lassen.“

[…] Um vier Uhr nachmittags öffnete Tom die Tür. Er sah ernst und angespannt aus.

„Gentlemen, die Geschworenen sind zu einem Urteilsspruch gekommen. Der Richter ruft alle zurück in den Gerichtssaal.“

Tate stand auf.

„Was heißt das jetzt? Dass es so schnell gegangen ist?“

„Komm schon, Tate.“ Jodie fasste ihn am Arm. „Gehen wir.“

Auf dem Gang schlossen sie sich dem Strom von Leuten an, die Schulter an Schulter von draußen hereindrängten und kalte Luft, den Geruch von Zigarettenrauch, regennasse Haare und feuchte Kleidung mitbrachten. Es dauerte keine zehn Minuten, bis der Gerichtssaal voll war. Viele bekamen keinen Sitzplatz mehr und mussten auf dem Gang oder den Eingangsstufen stehen bleiben. Um 16.30 Uhr führte der Gerichtsdiener Kya zu ihrem Platz. Zum ersten Mal stützte er sie am Ellbogen ab, und sie wirkte tatsächlich so, als würde sie andernfalls zusammenbrechen. Sie hielt die Augen starr auf den Boden gerichtet. Tate beobachtete jedes Muskelzucken in ihrem Gesicht. Er musste schwer gegen ein Gefühl von Übelkeit anatmen. Miss Jones, die Protokollführerin, trat ein und ging zu ihrem Platz. Dann kamen die Geschworenen nacheinander herein, feierlich und düster wie ein Beerdigungschor. Nur Mrs. Culpepper sah zu Kya hinüber. Die anderen blickten stur geradeaus. Tom versuchte, ihre Mienen zu deuten. Aus dem Zuschauerraum war kein einziges Hüsteln oder Füßescharren zu hören.

„Erheben Sie sich.“

Richter Sims‘ Tür ging auf, und er nahm auf dem Richterstuhl Platz

„Bitte setzen Sie sich. Vorsitzender, trifft es zu, dass die Geschworenen zu einem Urteil gelangt sind?“

In der ersten Reihe stand Mr. Tomlinson auf, ein stiller Mann, dem das Schuhgeschäft Buster Brown gehörte.

„Das sind wir, Euer Ehren.“

Richter Sims sah Kya an.

„Die Angeklagte möge sich bitte zur Urteilsverkündung erheben.“

Tom berührte Kya am Arm und half ihr dann auf. Tate legte eine Hand auf das Geländer, so nah, wie er Kya nur kommen konnte. Jumpin‘ griff nach Mabels Hand und hielt sie fest.

Niemand im Raum hatte je ein derartiges kollektives Herzklopfen erlebt, diese geteilte Atemlosigkeit. Augen huschten hin und her, Hände schwitzten. Hal Miller, der Krabbenfischer, zermarterte sich das Gehirn, redete sich immer wieder ein, dass er tatsächlich Miss Clarks Boot in jener Nacht gesehen hatte. Aber was, wenn er sich geirrt hat? Die meisten starrten nicht auf Kyas Hinterkopf, sondern hielten die Augen auf den Boden gerichtet, die Wände. Es schien, als wartete nicht Kya, sondern die Stadt auf das Urteil, und nur wenige empfanden die wollüstige Freude, die sie sich von diesem Moment versprochen hatten. Der Gerichtsdiener ließ sich von dem Vorsitzenden, Mr. Tomlinson, einen Zettel geben und reichte ihn an den Richter weiter. Der faltete ihn auseinander, las ihn mit ausdrucksloser Miene. Dann nahm der Gerichtsdiener den Zettel erneut entgegen und gab ihn Miss Jones, der Protokollführerin.

„Liest das jetzt endlich mal einer vor?“, zischte Tate.

Miss Jones stand auf, wandte sich Kya zu, faltete den Zettel auseinander und las:

„Wir, die Geschworenen, befinden Miss Catherine Danielle Clark des Mordes an Mr. Chase Andrews für nicht schuldig.“

Kya knickten die Knie ein, und sie setzte sich. Tom ebenso. Tate blinzelte. Jodie atmete geräuschvoll ein. Mabel schluchzte. Der Zuschauerraum war wie erstarrt. Sie hatten wohl nicht richtig gehört.

„Hat sie nicht schuldig gesagt?“

Das Geraune wurde rasch lauter, steigerte sich zu wütenden Fragen. Mr. Lane rief: „Das is nich in Ordnung.“ Der Richter ließ seinen Hammer knallen.

„Ruhe! Miss Clark, die Geschworenen haben Sie von der Anklage freigesprochen. Sie dürfen gehen, und ich entschuldige mich im Namen des Staates North Carolina für Ihre zweimonatige Untersuchungshaft. Geschworene, wir danken Ihnen, dass Sie sich die Zeit genommen und dieser Stadt gedient haben. Die Verhandlung ist geschlossen.“

Die Zuspitzung auf eine Konfrontation und damit auf ein „die gegen uns“ oder Gut gegen Böse ist ein probates Mittel, um Spannung zu erzeugen. Die Realität ist aber meist eine Abstufung von verschiedenen Grautönen.
Nichtsdestotrotz oder gerade deswegen ist das Schreiben von derartigen Szenen sehr schwierig. Die Gefahr des Abgleitens in Schablonen und Phrasen ist groß, das Schaffen von wirklichkeitsnahen und damit glaubwürdigen Dialogen anspruchsvoll. Vergiss nicht: nach dem CD und dem Kontakt musst du auch den Kunden von einem guten Dialog überzeugen. Eine Herausforderung!

Der französische Schriftsteller Daniel Pennac hat mit seinen Krimis um Monsieur Malaussène aus Belleville einen bunten und diversen Kosmos geschaffen. Machmal wird beim Reden aber auch geschwiegen, und das liest sich dann so.