Sehr deutlich – für empfindsame Menschen möglicherweise zu deutlich – werden hier die Gedanken eines Mannes zu seiner Tätigkeit und den Arbeitsumständen im Schlachthof beschrieben, die ihn um den Schlaf bringen. Der Buchausschnitt wurde uns beim Freitagssalon am 27. Januar 2023 von Juliana Grizenjuk vorgelesen.
Lesedauer acht Minuten
Rumpfhälfte. Betäubungsapparat. Schlachtstraße. Zeckenbad. Diese Wörter kommen ihm in den Sinn, suchen ihn heim. Zermürben ihn. Denn diese Wörter sind nicht nur Wörter. Sie sind Blut, Gestank, Automatisierung, Gedankenlosigkeit. Hinterrücks fallen sie nachts über ihn her. Dann wacht er schweißgebadet auf, weil er weiß, dass ihn ein weiterer Tag erwartet, an dem er Menschen schlachten muss.
Niemand nennt sie so, denkt er, während er sich eine Zigarette anzündet. Auch er nennt sie nicht so, wenn er einem neuen Mitarbeiter den Prozess der Fleischverarbeitung erklären muss. Denn dafür könnte er verhaftet werden, könnte selbst zum Städtischen Schlachthof gebracht und verarbeitet werden. Ermordet, wäre das korrekte, wenn auch verbotene Wort. Er zieht sein durchgeschwitztes T-Shirt aus und versucht den Gedanken zu verscheuchen, dass sie genau dies sind, Menschen, gezüchtet zum Verzehr. Er geht zum Kühlschrank und schenkt sich Wasser ein. Trinkt es langsam aus. Es gibt Wörter, die die Welt verschleiern, denkt er.
Es gibt Wörter, die bequem sind, hygienisch. Legal.
Er öffnet das Fenster, die Hitze erstickt ihn schier. Er atmet die stille Nachtluft ein, raucht. Mit Kühen und Schweinen war es einfach. Es war Handwerk, erlernt im Schlachthof Zypresse, dem Schlachthof seines Vaters, den er geerbt hat. Ja, das Quieken eines Schweins konnte einem durch Mark und Bein gehen, aber dafür gab es Ohrschützer, und nach einer Weile war es nur noch irgendein Geräusch. Jetzt, da er die rechte Hand des Chefs ist, muss er die neuen Angestellten einarbeiten und kontrollieren. Jemandem beizubringen, wie man tötet, ist schlimmer, als selbst zu töten. Er streckt den Kopf zum Fenster hinaus. Zieht die stehende, brennend heiße Luft in die Lungen.
Am liebsten würde er sich betäuben, leben, ohne etwas fühlen zu müssen. Auf Automatik schalten, schauen, atmen, sonst nichts. Alles sehen, wissen und nichts sagen. Doch die Erinnerungen sind da, gehen nicht weg.
Viele Leute haben sich an das gewöhnt, was die Medien den „Übergang“ nennen. Er nicht, denn er weiß, dass aus dem Wort „Übergang“ nicht hervorgeht, wie kurz und erbarmungslos sich dieser Prozess vollzogen hat. Ein Wort, das etwas fassbar machen soll, was eigentlich unfassbar ist. Ein leeres Wort. Veränderung, Wandel, Wende: Synonyme, die alle das Gleiche zu bedeuten scheinen, die aber eine je eigene Sicht auf die Welt verraten. Alle machen den Kannibalismus hoffähig, denkt er. Kannibalismus, noch so ein Wort, das ihn in große Schwierigkeiten bringen könnte.
Er erinnert sich an die Zeit, als zum ersten Mal vom GBK die Rede war. Die Massenhysterie, die Selbstmorde, die Angst. Nach dem GBK konnte man keine Tiere mehr essen, weil sie sich mit einem für den Menschen tödlichen Virus infiziert hatten. So zumindest die offizielle Version. Worte mit dem nötigen Gewicht, um uns zu formen, um jede Diskussion im Keim zu ersticken, denkt er. Er geht barfuß in der Wohnung umher. Nach dem GBK war die Welt eine andere. Impfstoffe wurden getestet, Gegenmittel, aber das Virus erwies sich als resistent und mutierfreudig. Er erinnert sich an Artikel über die Rache der Veganer, über Gewaltakte gegen Tiere, an Ärzte, die im Fernsehen erklärten, wie man den Proteinmangel ausgleichen konnte, Journalisten, die bestätigten, dass es nach wie vor kein Heilmittel gegen das Virus gebe. Er seufzt und zündet sich eine weitere Zigarette an.
Er ist allein. Seine Frau ist zu ihrer Mutter gezogen. Er vermisst sie nicht mehr, aber das Haus wirkt so leer, dass er nicht schlafen kann, dass er unruhig ist. Er nimmt ein Buch aus dem Regal. Ist jetzt hellwach. Schaltet das Licht an, um zu lesen, schaltet es wieder aus. Er ertastet die Narbe auf seiner Hand. Sie ist alt, tut nicht mehr weh. Ein Schwein hat sie ihm zugefügt. Er war sehr jung damals, ein Anfänger, der dachte, man müsse das Fleisch nicht respektieren, bis ihm das Fleisch fast die Hand abgebissen hätte. Der Vorarbeiter und die anderen hatten sich schiefgelacht. Jetzt bist du getauft, sagten sie. Der Vater sagte nichts. Nach diesem Biss war er für sie nicht mehr der Sohn des Chefs, sondern ein Teil der Belegschaft. Doch diese Belegschaft gab es nicht mehr, genauso wenig wie den Schlachthof Zypresse.
Er holt sein Handy hervor. Drei Anrufe seiner Schwiegermutter. Keiner seiner Frau.
Weil er die Hitze nicht mehr aushält, beschließt er, unter die Dusche zu gehen. Er dreht den Hahn auf und hält den Kopf unters kalte Wasser. Er will die fernen Bilder wegspülen, die Erinnerungsreste. Die Stapel der bei lebendigem Leib verbrannten Katzen und Hunde. Ein Kratzer bedeutete den Tod. Wochenlang hing der Geruch nach verbranntem Fleisch in der Luft. Er erinnert sich an die Trupps in den gelben Schutzanzügen, die nachts die Stadtviertel durchkämmten, um jedes Tier, das ihnen über den Weg lief, zu töten und zu verbrennen.
Das kalte Wasser plätschert ihm auf den Rücken. Er setzt sich auf den Duschboden. Schüttelt langsam den Kopf, kann nicht anders als sich erinnern. Einige Leute begannen heimlich Menschen zu töten und zu essen. Die Presse berichtete von einem Fall, bei dem zwei arbeitslose Bolivianer von Nachbarn angegriffen, zerlegt und gegrillt worden waren. Als er die Nachricht las, lief ihm ein Schauer über den Rücken. Es war der erste öffentliche Skandal, der Skandal, der einen Gedanken in alle Köpfe pflanzte, dass Fleisch Fleisch ist, egal, woher es stammt.
Er hält sein Gesicht in den Strahl. Will, dass das Wasser seine Gedanken wegspült. Doch er weiß, dass die Erinnerungen bleiben, immer bleiben werden. In einigen Ländern verschwanden massenweise Immigranten. Immigranten, Obdachlose, Arme. Sie wurden verfolgt und geschlachtet. Legalisiert wurde dieses Vorgehen, als die Regierungen unter Druck gesetzt wurden von einer milliardenschweren Industrie, die zum Stillstand gekommen war. Die Schlachthöfe und Regulierungen wurden entsprechend angepasst. Es dauerte nicht lange, da wurden sie wie Vieh gezüchtet, um die massive Nachfrage nach Fleisch zu stillen.
Er tritt aus der Dusche und trocknet sich flüchtig ab. Betrachtet sich im Spiegel, die Ringe unter seinen Augen. Er neigt einer Theorie zu, die anfangs die Runde machte, deren Verfechter jedoch, wenn sie öffentlich darüber sprechen wollten, zum Schweigen gebracht wurden. Ein renommierter Zoologe, der in seinen Artikeln behauptete, das Virus sei eine Erfindung, erlitt einen gelegen kommenden Unfall. Er selbst glaubt ebenfalls, dass alles nur inszeniert ist, um die Überbevölkerung zu stoppen. Seit er denken kann, heißt es, die Ressourcen seien knapp. Er erinnert sich an die Aufstände in Ländern wie China, wo die Leute sich vor lauter Platzmangel gegenseitig töteten, was aber von den Medien nie unter diesem Blickwinkel erörtert wurde. Wer von jeher behauptete, die Welt werde irgendwann explodieren, war sein Vater: „Die Erde wird irgendwann platzen. Du wirst schon sehen, mein Junge, entweder es knallt, oder wir sterben an einer Plage. In China bringen sie sich schon gegenseitig um, weil sie einfach zu viele sind, weil nicht mehr alle reinpassen. Hier, hier ist noch Platz genug, aber dafür wird uns das Wasser ausgehen, die Nahrung, die Luft. Alles wird vor die Hunde gehen.“ Damals hatte er ihn mitleidig angesehen, weil er es für seniles Gerede hielt, aber heute weiß er, dass sein Vater recht hatte.
Die Säuberungsaktion brachte einige Vorteile mit sich: Reduzierung der Bevölkerung, der Armut, und endlich wieder Fleisch. Die Preise waren hoch, doch der Markt wuchs rapide. Es kam zu Massenprotesten, Hungerstreiks, einem Aufschrei der Menschenrechtsorganisationen. Gleichzeitig wurden Studien und Berichte lanciert, um die öffentliche Meinung zu manipulieren. Renommierte Universitäten behaupteten, tierische Proteine seien lebenswichtig, Ärzte argumentierten, pflanzliche Proteine enthielten nicht alle essenziellen Aminosäuren, Experten versicherten, die Emission von Treibhausgasen habe sich zwar verringert, dafür aber die Mangelernährung zugenommen. Der Protest schwächte sich ab, und es wurde weiterhin von Fällen berichtet, bei denen angeblich Menschen an dem Tiervirus gestorben waren.
Die Hitze setzt ihm nach wie vor zu. Nackt geht er hinauf zur Galerie. Die Luft steht. Er legt sich in die Hängematte und versucht zu schlafen. Immer wieder muss er an diese eine Werbung denken. Eine schöne Frau, zurückhaltend gekleidet, serviert ihren drei Kindern und dem Ehemann das Abendessen. Sie blickt in die Kamera und sagt: „Spezialkost für meine Familie, Fleisch, wie wir es kennen, nur schmackhafter.“ Alle lächeln und essen. Die Regierung, seine Regierung, hatte beschlossen, dem Produkt einen anderen Namen zu geben. Von da an hieß es „Spezialfleisch“. Es war nicht mehr einfach nur „Fleisch“, sondern wurde zu „Spezialfilet“, „Spezialrippchen“, „Spezialniere“.
Er nennt es nicht Spezialfleisch. Er benutzt ein neutrales Wort, um das zu bezeichnen, was ein Mensch ist, aber nie eine Person sein wird, das, was immer nur ein Produkt ist. Er spricht von Stücken, die es zu verarbeiten gilt, von dem Posten im Hof, der abgeladen werden muss, vom Fließband, dessen Geschwindigkeit konstant zu halten ist, von Exkrementen, die als Dünger verkauft werden, von Innereiabteilung. Niemand darf Mensch sagen, weil ihnen dann etwas zugestanden werden müsste, also sagen alle Produkt oder Fleisch oder Nahrung. Nur er nicht, dem es am liebsten wäre, er müsste ihnen gar keinen Namen geben.
Ein erschütternder Text. Seine Eindrücklichkeit kommt dabei nicht nur vom Thema, sondern auch von der präzisen Verwendung von Fachbegriffen und der exakten Beschreibung von Abläufen.
Recherchiere nicht nur vom Schreibtisch aus, sondern geh hin und rede mit den Leuten. Das bringt dir zum Schreiben das notwendige Wissen, um überzeugende Texte formulieren zu können. Liefere einen Tag Betten, Matratzen und Sideboards aus mit dem Lieferdienst deines Möbelhauskunden, nimm mal an einem Beratungsgespräch bei deinem Bankkunden teil, oder guck und hör einem Verkaufsgespräch für eine Familienlimousine deines Autokunden zu. Du wirst viel über die Branche und die Menschen in der Branche lernen.
Fachkenntnis ist faszinierend – die Fachfrau guckt etwas an und weiß auf einen Blick, worum’s geht. Hier zum Beispiel wird Philipp Blom seine Geige erklärt.