Dass Geschwister Gemeinheiten untereinander gelegentlich gnadenlos übertreiben, wenn es um die Machtverteilung im Kinderzimmer geht, kennen wahrscheinlich viele, die welche haben. Hier allerdings scheint die Brutalität der Erwachsenenwelt zusätzlich einen unguten Einfluss zu nehmen. Deshalb: Für einschlägig belastete Seelen kann das zu viel sein. Vorgelesen wurde der Text von Leah Neumann beim Freitagssalon am 27. Januar 2023.
Lesedauer gut zehn Minuten
Die Zwillinge üben Dankesreden vorm Spiegel und synchronisieren sich dabei gegenseitig. Sie putzen ihre Profischlittschuhe öfter als ich meine Zähne. Wenn sie nicht fahren, legen sie sie zur Anbetung In eine Glasvitrine. Dann stellen sie sich vor, wie sie Olympisches Gold holen. Wie eine der anderen Hagebuttenkörner ins Kostüm streut oder ihr mit der Eisenstange das Knie zertrümmert. Keine will mit der anderen den Erfolg teilen. Mich dagegen würden sie am liebsten in Stücke reißen.
Sie überreden mich zu Mutproben. Ich zerschneide für zehn Schilling mein einziges Dirndl. „Wenn es so schön knistert, kann es nicht verboten sein“, sagen sie. Sie drängen mich, der Großmutter giftige Puffpilze unter den Kopfpolster zu streuen. Dann nenne ich den Busfahrer Wichser. „Stimmt“, sagt er, und die Schwestern schwören, dass es Bettvorleger bedeutet. Einmal haben sie mich in die Räucherkammer auf dem Dachboden gelockt. Dort oben ist es finster und kalt, der Dachstuhl voller Löcher und die Balken, die zum Heuboden führen, sind morsch. Der Wind pfiff fürchterliche Lieder hinein und fuhr mir durch die Kleider. Am Boden lagen lose Barbiepuppenköpfe mit geschminkten Mündern. Sie zogen mich, eine links, die andere rechts, am Ohr, damit ich mir den Anblick des Schlachtfeldes einschärfe, doch ich empfand keine Reue. Dann übten sie Lynchjustiz. Sie stießen mich hinein in die Räucherkammer, ein blindes Loch, und schoben den schweren Holzriegel vor die Metalltür. „Wir werden dich selchen“, sagte die eine. „Dann wirst du ganz schwarz, wie der alte Speck, der noch von der Stange hängt“, die andere. Ich habe immer versucht herauszufinden, wer die Boshaftere von beiden ist, und bin zu dem Schluss gekommen, einig bin ich mir nur über ihre Eineiigkeit. Ich habe um mein Leben geschrien, bis die Mutter mit der Mistgabel erschien. Um sie zu hörnen, wie ich hoffte, doch sie hat sie bloß am Genick gepackt.
Ein anderes Mal erzählen sie mir davon, dass ich als Baby wochenlang von der Muttersau gestillt wurde, weil man ohne Muttermilch nicht überlebt und die Mutter auf Kur war, um sich von meiner Höllengeburt zu erholen. Sie berichten von Wurzelkobolden, die in der Nacht in Schlafgemächer schleichen und kleinen Kindern den Atem stehlen und ihn in Säcke abfüllen, um ihr stickiges Erdreich zu belüften. Ich blase Luftballons auf und lege sie als Notration unter mein Bett.
Sie erzählen von der grünen Schleimhand, die aus der Toilette greift und einen in die Kanalisation hinunterzieht. Sie äußern den Verdacht, dass ich von einer Kleinwüchsigen abstamme. „Wer unter eins sechzig bleibt“, beginnt die eine, „ist Abkömmling eines Zwergs“, vollendet die andere den Satz. „Du Gnom!“, im Chor. Jeden Tag lege ich mich nun ins unberührte Ehebett der Eltern, neben das Maßband. Zwischen uns ein Abgrund, so tief wie die Kluft zwischen links und rechts.
Irgendwann finden sie meinen Liebesbrief an den pickeligen Stefan, den Zugezogenen, mit Sternschnuppen und selbstgemalten Eichhörnchen. Sie lesen laut vor. Schtefan. Wir müsn redn. Ich pin vealipt. Steht da in Blockschrift und als Aufforderung, doch Stefan weiß nicht einmal, dass es mich gibt. „Schau dir die fetten Biber an!“, grölt die Jüngere unter Tränen. „Das ist ein Eichhörnchen, du Arschloch!“, plärre ich, während ich mit meinen Babyfäusten hilflos auf sie einhämmere. Sie liegen auf dem kalten Linoleumboden, krümmen sich und halten sich die Bäuche. Und ich wünschte, sie hätten eine Lebensmittelvergiftung, ich wünschte, ich hätte die Macht, sie zu vergiften, ihnen Tollkirschen ins Kompott zu mischen. Ihnen ihre blonden Köpfe am Ansatz abzuschneiden, ohne die sie nichts mehr sind. Ihnen mit ihren Eislaufschuhen die Schädeldecke zu öffnen, um ihr Hirn zu sezieren. Doch in dem Hohlraum sitzt nur ein verkümmerter Zwerg mit Schal und Decken, der sagt: „Mach zu, es zieht!“
Stefan ist sehr groß für seine dreizehn, vierzehn Jahre. Wenn er an uns vorbeispaziert, überragt er die meisten Mädchen um zwei Köpfe. Er wird der erste sein, der über unsere Misthaufen hinauswächst. „Anwaltssöhnchen!“, schreien die älteren Dorfbuben in Sopran, Alt und Tenor, „Fickt euch!“, donnert es im Bass zurück, dann dreht er sich um und krempelt seine Ärmel hoch. Zombie und Junkie, so nennen sie den Halbwüchsigen mit den schwarzen langen Haaren, dem schwarzen langen Mantel und den schwarzen langen Nägeln. Mich fasziniert sein wehender Auftritt, das bleiche Gesicht mit den dunklen Augen, ein wandelnder Krähenmann mit leicht entstelltem Gesicht. Die Schöne und das Biest, so werden sie uns später einmal nennen, mich bewundern, ihn mit Abstand achten, wenn ich dereinst schön bin. Und in die Kutsche steige und die Erbsenköpfe hinter mir lasse. Aber noch ist mein gläserner Schuh ein Stallstiefel und sie alle nichts als Frösche. „Anwaltssöhnchen!“ Wie eine Meute fallen sie über ihn her. Krähen werden bei uns erschossen und mit ausgebreiteten Flügeln kopfüber an der Mistbahn aufgehängt. Zur Mahnung für alle, die flüchten wollen. Es bildet sich ein Knäuel aus wuselnden Knabenbeinchen und Knabenärmchen, die sich ineinander verhaken. Dann bricht der Kreis auf wie eine Knospe und Stefan schlägt mit aller Kraft zu, sodass das Blut der Dorfproleten aus verschiedenen Öffnungen schießt wie in einem Film von Tarantino. Wunderschönes Hämoglobinrot spritzt auf den Asphalt und hinterlässt Jackson-Pollock-Tropfspuren. Ich pin vealipt.
Heute liebe ich Stefan, morgen Richard. Niemand weiß davon, schon gar nicht die beiden. Dann unseren Stallarbeiter vom Maschinenring, den mit der Hasenscharte, der ständig herumsteht wie ein Baum. „Der Unterschied zwischen dem und Holz ist der, dass Holz arbeitet“, schreit der Vater beim Abendbrot und schlägt mit der Faust auf den Tisch, dass die Rindsuppe überschwappt. Tage später liebe ich bereits den Fischmann, der mir die getrockneten Augen einer Räucherforelle als Glücksbringer überreicht. Ich bin in jeden verliebt, der meinen Weg kreuzt und nicht in mich verliebt ist, besser, der meine Existenz überhaupt nicht registriert. Doch sobald mich ein Mann wittert, stellt sich Ekel ein. Deshalb beende ich dann auch die Affäre mit meinem Kunstlehrer, der mir die Zentralperspektive mit seinem Schwanz als Fluchtpunkt beibringen wollte. Er stellte sich mit entblößtem Ständer vor die Tafel, zeigte auf seine Eichel und begann zu dozieren: „Alle Fluchtlinien verlaufen dorthin. Bis alles fließt. Dein Mund ist ein heiliger Kelch, eine Rubin’sche Vase, und du bist meine Kippfigur.“ Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach, fand ihn aber unheimlich intellektuell und probierte auf den Tischen des Zeichensaals, wo ich am Vormittag noch unberührte Landschaften gemalt hatte, verschiedene Stellungen aus. Er verliebte sich in mich. Und ab da wurde ich hässlich. Hässlich zu ihm. Kurz zuvor spiele ich noch mit den anderen Kindern Seilhüpfen. Wir spannen die Schnüre des Lebens, als wären es lose Fäden. Und wir drängen den einfältigen Nachbarsjungen, die kleine Lotte zu küssen, drohen ihm mit Gewalt, wenn er kneift. Die Mädchen spielen heimlich Vater, Mutter, Kind. Sie sperren ihre Zimmer ab, ziehen sich nackt aus und penetrieren sich gegenseitig mit Tampons. Ich, das Kind, das Neugeborene, gebe nur Babygeräusche von mir, wie sie es verlangen. Sonst mache ich nichts, schaue zu mit großen Augen und geschlossenem Mund. Nach fünf Minuten beschließen sie, dass ich sterben muss. Sie begraben mich im Garten und drohen mir Knochenbrüche an, wenn ich etwas ausplaudere. Wir tragen Bandenkriege aus, bauen Silvesterbomben und sprengen Asphaltlöcher in die Straßen. Wir drangsalieren die fremden Kinder der Stadtleute, weil uns nicht gefällt, wie sie sprechen. Weil wir sie nicht verstehen. Wir bauen Fallen, heben Sandgruben aus, die wir mit Ästen und Blättern bedecken, wollen Kinder fangen und züchtigen wie wilde Tiere. Wir zählen aus, wer sie knebeln muss. John F. Kennedy kauft sich einen Kaugummi, spuckt ihn wieder aus und du bist draus! „Wer ist John F. Kennedy?“, frage ich die Bande, die neben den Zwillingsschwestern aus den vielen Cousins und Cousinen besteht. „Ein ganz feiner Stadtmensch, der wie du ein Krüppelkorsett getragen hat“, ärgert mich die fünf Minuten Jüngere, hält mir die Fingerpistole an die Schläfe und drückt ab. Das Los fällt auf mich, doch ich bin zu schwach, um einen ordentlichen Knoten zu binden, und das kleine Mädchen mit dem rot-weiß gepunkteten Kleid hält nicht still. „Lass mich das machen!“, stößt mich die fünf Minuten Ältere weg, drückt seine zarten Handgelenke nach hinten und hält sie mit einer Kralle fest. „Nein, wir sperren sie in die morsche Hütte und lassen die fürchterliche Trude durch das Loch hinein“, schreit die Nachgeburt. „Ja, wie im Kolosseum“, stimmt die Ältere ein. Schon schließen die Cousins Wetten ab. Alle setzen auf Trude, das besessene Schaf, dann wird das kleine blonde Mädchen wie eine Strafgefangene abtransportiert. Mit meinen Rüschensocken und Lacksandalen stapfe ich hinter ihnen her. Ich hoffe, dass sie sich nicht nach mir umdrehen, und lache in mich hinein, denn es gibt jemanden, der kleiner und schwächer ist als ich. Nachdem sie die Tür hinter dem Mädchen abschließen, ziehen sie sich die Gasmasken aus der Getreidekammer übers Gesicht und schwarze Müllsäcke über den Körper. „Komm! Jetzt!“, schreien sie, dann fallen sie invasiv in die Schweinebucht ein. Vier von oben, drei von der Seite, die Schwestern hinterrücks. Mir stockt der Atem, obwohl ich ihre Verwandlung zuvor mitverfolgt habe. Die anderen Kinder reagieren unterschiedlich. Eines fällt vom Kasten und bleibt mit offenem Mund liegen. Ein anderes quiekt wie ein aufgeregtes Ferkel. Nur das kleine Mädchen mit dem getupften Kleid rührt sich keinen Millimeter und schaut mit leerem Gesicht vor sich hin. Als wir gefasst werden und gedemütigt unsere Gefangenen befreien, schieben sie die Schuld auf mich, weil sie sich dadurch eine mildere Bestrafung erhoffen. Man nimmt den Schwestern ihre Pferde, die Abartigkeit nicht. Was mit dem Mädchen passiert ist, werde ich nie erfahren.
Die Zwillinge sind nun viel eingespannt. Sie müssen schuften und rackern, bis der Schweiß das blondgelockte Haar zu getrocknetem Schnittlauch glättet. Butter rühren, Brot backen, melken. Stall ausmisten, einstreuen, Kühe füttern. Meine Hände sind viel zu schwach dafür, zudem ungeschickt. Und das Korsett wird mir zeitlebens den Brustkorb zuschnüren. Es stützt mich, auch wenn ich fallen möchte. Wir sind so stark miteinander verwachsen, dass ich mich verwundbar fühle, sobald ich es ablege. Achillestorso. Die Zwillinge sollen in dem Glauben bleiben, dass ich es hasse, sonst kommt ihnen noch die Idee, es lebendig zu beerdigen. Wie meinen Hamster. Offene Wunden sind die Ruhebetten der lästigen Fliegenschwestern.
Der Vater lässt sich kaum noch blicken, arbeitet neben dem Hof am Bau und in der Fabrik. „Die Stadt ist eine Hure“, sagt er, wenn er sein Geld im Wirtshaus gelassen hat: „Sie nimmt dich aus, ohne dass du es merkst.“ Als er zwei Tage nicht nach Hause kommt, klappert die Mutter alle Freudenhäuser in der Gegend. ab. „Findet er es bei uns nicht mehr lustig?“, frage ich die Mutter, die nur mehr aus Haut und Knochen besteht, als sie wieder da ist. Zwei Stunden später kommt er ohne Auto, mit blauem Auge und blutiger Nase nach Hause. Er ist mir fremd, lallt wie einer der Bauarbeiter, die den neuen Stall fertigstellen. Die Mutter fragt ihn, wo er gewesen sei. „Ssspazieren“, pfeift er durch eine frische Zahnlücke. Sie wirft mit Kieselsteinen nach ihm und brüllt, springt ihm auf den Rücken, reißt Büschel aus seinem Haar. An das, was danach passiert, werde ich mich später nicht mehr erinnern können. Doch die Haarsträhnen, die kleine Kopfschwarte und die Zähne aus diesem Kampf präsentiert die Mutter stolz als Jagdtrophäen an der Wand über dem kaputten Wohnzimmerflügel.
Ich habe immer nur gehofft, dass einer von beiden übrigbleibt, wenn sie versucht haben, sich gegenseitig abzuschlachten. Damit ich nicht in die Obhut der Zwillinge gerate.
Eine kraftvolle, derbe und farbige Sprache! Sie kann, je nachdem, wie sie vorgelesen wird, die Erzählerin zum Opfer oder zur Mittäterin machen. Probier’s mal aus: einmal so richtig saftig und laut, einmal eintönig, leise und ohne Luft.
Es ist erstaunlich, welchen Unterschied die Interpretation eines Textes durch die Leserin, den Leser ausmacht. Sei dir dessen bewusst, wenn du deine Texte deiner Kundin, deinem CD, deiner AD vorliest.
Aufwachsen ist eine schwierige Angelegenheit; das weißt du aus eigener Erfahrung. In der Literatur wird diese Phase im Leben häufig und in vielen Facetten beschrieben. Hier, hier, hier und hier findest du unterschiedliche Beispiele. Ein Vergnügen ist es nicht immer, aber hochemotional in jedem Fall.