„Rollenbilder“ aus „Generation Z“ von Valentina Vapaux (2021)

Verhält sich die Gesellschaft tatsächlich so, wie wir sie individuell einschätzen? Sind alte Klischees überholt oder sieht es unter der Oberfläche ganz anders aus? Es kann helfen, immer wieder genau hinzusehen, eine andere Perspektive einzunehmen und Informationen zu sammeln, um das herauszufinden. Marie Zeidler hat für den Freitagssalon am 25. November 2022 den folgenden Beitrag ausgewählt und uns zur Verfügung gestellt.

Lesedauer zehn Minuten

Pride Parade, Gendersprache, Klimakrise und Netzaktivismus. Wie auch andere Generationen vor uns werden wir in der Öffentlichkeit durch unsere laute linke Seite dargestellt. Aber ist das alles wirklich so, sind wir wirklich so weltoffen, progressiv und liberal? Heute spielt sich alles in Bubbles ab. Wir wissen nicht so wirklich, ist das die Realität oder nur die, in der ich lebe. Meine Blase – und in ihr auch viele Influencer:innen – kämpft für Geschlechtergerechtigkeit, Klimaschutz und gegen Alltagsrassismus. Influencer:innen haben Macht, sie bestimmen den Zeitgeist mit. 

Ich kenne die leer wirkenden Modemädchen, aber in meiner Wahrnehmung sind die politisch Aktiven und diejenigen, die an sozialer Gerechtigkeit interessiert sind, stärker. Als ich dann aber einen Artikel auf Spiegel Online über Geschlechterrollen auf Social Media lese, bin ich doch etwas überrascht. Dort heißt es: „Das Frauenbild (auf Instagram und YouTube) orientiert sich an den Fünfzigerjahren.“

Die Schauspielerin Maria Furtwängler gab 2019 mit ihrer Tochter und der gemeinsam gegründeten Stiftung „MaLisa“ eine Studie in Auftrag, die herausfand, dass in Deutschland die 100 erfolgreichsten Frauen in den sozialen Medien vor allem Beauty, Home & Lifestyle sowie Mutterschaftsthemen („Mamiblogger“) bedienen, während die 100 erfolgreichsten Männer vielfältigen Content wie Comedy, Satire, Bildung und Politik erstellen. Die auf Social Media beliebten Rollenbilder sehen folgendermaßen aus: Schöne, schlanke weiße Frauen machen Fashion- und Beauty-Content, Traumhochzeit und süßes Baby mit Kulleraugen inklusive. Beliebte Männer auf Social Media sind anders, sie sind unterwegs, sie sprechen über Fitness, klären über den Nahostkonflikt auf, sprechen über Start-up-Unternehmen oder machen intelligente Witze. Was sagt das über uns aus? 

Die Ergebnisse dieser Studie stören mich. Nicht nur weil ich voller jugendlicher Hoffnung der Meinung war, dass meine Generation weiter wäre, sondern weil ich einfach nicht glauben kann, dass es stimmt. Ich folge vielen tollen, intelligenten Frauen auf Instagram, die Politik-Content machen oder über Investment und Start-ups sprechen. Den Beauty- und Lifestyle-Content (den ich auch selbst produziere) habe ich nie als etwas Antifeministisches oder Schlechtes wahrgenommen. Für mich war diese Art von Unterhaltungscontent immer ein Zeichen von weiblicher Stärke, Selbstständigkeit und Unternehmertum. Die anderen Influencerinnen und ich waren Selfmade-Power-Women. Dass dieser Blickwinkel ebenfalls problematisch sein kann, wurde mir aber erst viel später bewusst. 

Ich fing also an zu recherchieren, meinen Instagram-Feed durchzugehen und mir die beliebtesten deutschen Kreator:innen genauer anzusehen. Schnell fand ich heraus: Natürlich existieren auf Instagram auch andere Frauen, Frauen mit unterschiedlichem Background, Frauen, die nicht dem westlichen Schönheitsideal entsprechen, oder Frauen, die eine starke Meinung haben. Sie sind jedoch weniger erfolgreich als die weißen, dünnen Beauty-Influencerinnen, zu denen ich auf irgendeine Art und Weise auch gehöre. Ich kenne einige dieser jungen Frauen, viele von ihnen haben auch Ansichten zu bestimmten Themen, doch sie teilen sie nicht. Denn intellektueller oder politisch motivierter Content hat einen Einfluss auf ihr Businessmodell. „Eine starke eigene Meinung schmälert deinen finanziellen Wert, weil sich dann bestimmte Firmen nicht mehr mit dir zeigen wollen“, sagte eine anonyme YouTuberin der Zeit.
Man denkt sich: Hm, blöd, dass man weniger verdient, wenn man sich politisch äußert, aber das ist halt so, das ist der Kapitalismus. Die Menschen, die sich für Politik, das Klima oder soziale Gerechtigkeit interessieren, können gezielt Influencerinnen suchen, die sich für Politik, Feminismus oder das Klima einsetzen. Es gibt sie ja – sie bekommen halt weniger Aufmerksamkeit. Angebot und Nachfrage, so funktioniert das eben. Die großen, bekannten Influencerinnen haben ja auch selbst das Recht zu entscheiden, was für Content sie kreieren. Das ist doch auch in Ordnung, wenn eine junge Frau sich für Beauty- und Lifestyle-Content interessiert. 

Diese Denkstruktur nennt man Choice Feminism, eine moderne Strömung im Feminismus, die sich auf freie Entscheidungen von Frauen fokussiert. Sie erkennt eine Entscheidung als valide an, solange die Frau sie frei getroffen hat. Ob eine Frau gern eine gute Hausfrau sein möchte, ob sie mit vielen Männern schlafen will oder ob sie Politikerin werden will – es ist feministisch und richtig, solange sie das will. 
Klingt an sich erst mal ganz gut. Ich selbst war für den Großteil meines Lebens, wenn auch unwissentlich, Choice-Feministin.
Doch diese Theorie hat Lücken, sie zieht nicht in Betracht, dass wir in einem Zeitalter der Desinformation und der Manipulation aufgewachsen sind. Der Überwachungskapitalismus hat uns Freiheiten genommen, ohne dass wir es gemerkt hätten. Und vor allem wir, die Generation Z, kennen nichts anderes. Denn im Endeffekt geht es nicht darum, ob die Dagi Bees oder Pamela Reifs dieser Welt aus freiem Willen sich so sehr auf ihr Äußeres fokussieren. Denn sie haben Einfluss und das Frauenbild, das diese Kreatorinnen verbreiten, hat Konsequenzen für unsere ganze Generation. Ziemlich erschreckende. 

Die Kinderrechtsorganisation Plan International analysierte in einer Umfrage, wie soziale Medien unsere Rollenbilder prägen. Diese ergab, je intensiver junge Menschen Instagram, YouTube & Co. nutzen, desto konventioneller und stereotyper sind die Ansichten über die Rollenverteilung von Mann und Frau. 

In allen Bereichen zum Thema Rollenverteilung hatten die Intensivnutzer von sozialen Medien ein weniger emanzipiertes Rollenverständnis als diejenigen, die sich seltener in den sozialen Medien bewegen. So ist es zum Beispiel für 52 Prozent der Jungen, die täglich auf Social Media unterwegs sind, in Ordnung, wenn Frauen für die gleiche Arbeit weniger Geld erhalten als sie. Ich weiß nicht, aber ich hätte mir ein bisschen mehr von meinen männlichen Altersgenossen erhofft. In der Gruppe der jungen Männer, die weniger Social Media nutzen, sind es 29 Prozent. Noch erschreckender ist aber, dass 32 Prozent der befragten jungen Frauen, die täglich YouTube, Instagram und TikTok nutzen, angaben, es in Ordnung zu finden, wenn Frauen bei gleicher Arbeit weniger verdienen als Männer. Like what? So, du würdest das einfach nur hinnehmen? Für dieselbe Arbeit? Weniger Geld? Einfach nur, weil du ein Mädchen bist? I’m lost. 

Das Ergebnis unter den Mädchen, die weniger intensiv soziale Medien nutzen, fiel auch hier geringer aus, 17 Prozent gaben an, das Lohngefälle zwischen Männern und Frauen gerecht zu finden. Ich weiß nicht, wie du dich damit fühlst, aber ich finde das irgendwie schockierend. 

Auch bei anderen Themen wie Haushalt und Kindern sieht es ähnlich aus. Die Mädchen, die viel Social Media konsumieren, finden eher, dass Hausarbeit immer noch Frauensache ist, als diejenigen, die weniger dort unterwegs sind. Man kann also sehen, dass die klischeehaften Rollenbilder, die auf Social Media sehr präsent in die Welt getragen werden, einen direkten Einfluss auf das Denken junger Menschen haben. Soziale Medien haben eine unglaubliche Macht, was beispielsweise feministischen Protest und Aktivismus angeht, doch die Zahlen zeigen, dass die Nutzung von Instagram, YouTube & Co. sexistische Denkmuster sowohl bei Mädchen als auch bei Jungen validiert, verstärkt und sogar anerzieht. 

Wenn man sich die bekanntesten Influencerinnen mal anschaut, merkt man, warum das so ist. Sie sind alle unfassbar homogen in dem, was sie machen, wie sie aussehen und an welche Orte sie fahren. Vor allem Werte kommunizieren sie meist nur indirekt. Das geschieht durch das unkommentierte Vorleben. Die typische Karriere einer Influencerin sieht so aus: Beim Start ihres Accounts hat sie meist Vorteile, was ihr Weißsein, ihre Schönheit und ihre Schlankheit angeht. Die Followerzahlen wachsen, ihren Erfolg misst sie darüber, wie viele Menschen sich für sie, basierend auf ihrem Äußeren, interessieren. Sie hat immer mehr Möglichkeiten und Geld, um ihr Aussehen zu pflegen, indem sie jeden Tag Zeit in ihre Haare, ihr Make-up und ihr Outfit investiert. Sie beschäftigt sich mit diesen Themen, sie spricht darüber. Zu viralen aktivistischen Bewegungen repostet sie etwas, sonst schweigt sie. Sie ist hübsch, süß und nett. Sie ist halt sie selbst. Irgendwann bekommt sie einen gut aussehenden Fotografen-Boyfriend, mit dem sie dann die dritte Eigentumswohnung kauft und von dem sie irgendwo in einem Herz aus weißen Rosenblättern endlich den Heiratsantrag bekommt. Geheiratet wird am Strand oder in einem Schloss, monatelang überwiegt dieser Content auf ihrem Account. Alle kommentieren solche „Goals“, denn eine Traumhochzeit, das ist das wahre Ziel im Leben einer jungen Frau. Dann kommt das Baby – Schwangerschaft und Mutterschaft werden glorifiziert und mit Insta-Filtern ein bisschen cuter gemacht, aber hey!, sie zeigt ja auch die echten Momente mit Messy Bun und Babybreikleckerei. 

Die typische Influencerin hat viele Privilegien, die andere Frauen nicht haben, aber vor allem hat sie eines: Zeit. Zeit fürs Spielen mit dem süßen Baby, Zeit, gesunde Mahlzeiten für alle drei zu kochen, Zeit für Maniküre, frische Dyson-Locken jeden dritten Tag und die Balayage. Sie ist die ideale, modernisierte Version der perfekten Frau der Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts. 

Ich finde es immer ein bisschen merkwürdig, wenn mir jemand versucht zu erklären, dass die böse Rapmusik alle Kiddies auf Xanax abspacken lässt oder dass wir alle nur dumme handysüchtige Insta-Barbies werden, weil wir so viele „perfekte“ Menschen auf Instagram, Tik Tok und YouTube sehen. Ein Teil von mir ist da noch zu sehr in einer augenverdrehenden Teenieexistenz, die alles, was von besorgten Erwachsenen kommt, absolut lahm findet. Aber irgendwie bin ich auch schon weiter als das, weil ich ganz einfach bei mir selbst erkenne, dass mich das, was ich auf Insta sehe, nicht kaltlässt. Diese Influencerinnen, von denen ich spreche, sind auch nicht per se ein schlechtes Vorbild oder gar schlechte Menschen, weil sie einen privilegierten Lifestyle leben, den junge studierende oder berufstätige Frauen einfach nicht haben können. Das Problem ist, dass es kein Bewusstsein darüber gibt, dass dieses Frauenbild uns Werte anerzieht, die uns selbst behindern können. 

Es ist kein Zufall, dass mit fortschreitender Gleichberechtigung auch ein verstärkter Fokus auf klassische oder neue Ideale von Weiblichkeit vermittelt wird. Die Entwicklung in unserem patriarchalen System funktioniert wie zwei Rolltreppen nebeneinander. Eine fährt aufwärts, wir sind immer gleichberechtigter in der Art und Weise, wie wir unser Leben führen, welche:n Partner:in wir haben und welchen Beruf wir ausüben. Aber die andere Treppe geht in die entgegengesetzte Richtung. Früher gab es Hochglanzmagazine und den Playboy, es galt, gepflegt auszusehen. Heute sind wir alle unser eigenes Hochglanzmagazin, wir setzen für uns Maßstäbe, für die wir weder das Geld noch die Zeit haben. Es ist ein ganz simpler Mechanismus: Frauen bekommen in einer Gesellschaft mehr Freiheit, doch nun wird die Sexualisierung intensiver als zuvor, der Wert einer Frau wird noch stärker an ihrem Aussehen gemessen. Juicy-Ass-Training, Push-up-BHs, Lip plumping Gloss, Tiny-Waist-Corsett. Hier habt ihr Equality, aber jetzt müsst ihr mehr Zeit und Geld in euer Aussehen investieren, um euch gut zu fühlen, Zeit, die ihr in eure Ausbildung oder Karriere hättet investieren können, aber ups… ihr seid also immer noch ’n bisschen unterdrückt, haha, xoxo Patriarchat. Es ist nichts falsch am klassischen Ausdruck von Weiblichkeit, daran, sich selbst zu sexualisieren, an großen, gemachten Brüsten oder an Lack-High-Heels. Wir brauchen aber ein Bewusstsein darüber, woher dieses Bedürfnis kommt, männlichen Idealen zu entsprechen und sie zur Grundlage unseres Selbstwerts zu machen. Wir müssen lernen, diese Denkstruktur und diese Rolle zu hinterfragen, um uns anschließend aktiv für oder gegen sie zu entscheiden oder, wie in den meisten Fällen, für eine Zwischenform. Ich liebe pinke Miniröcke, Glitzernägel und Glow-in-the-dark-Dildos, but bro, I love some politics, finance and philosophy as well! 

Wir sind in fast jeder Situation unseres geschäftlichen Lebens nicht souveräner Entscheider, sondern füllen eine Rolle in einem Spiel aus. Es lohnt sich, sich darüber im Klaren zu sein, welches Ziel das Spiel hat, welches die eigene Rolle und welches ihre Möglichkeiten und Grenzen sind.
Nicht, dass du deshalb alles im Griff hättest und nur Gutes bewirktest, aber du kannst deinen Beitrag so gestalten, dass er in deinem Sinn ist.
Ohne Irrtümer, Fehler und Schuld kommen wir alle nicht durchs Leben. Das nennt man Mensch sein.