„Erwachsensein“ aus „Jetzt, Baby“ von Julia Engelmann (2016)

Jeder gerät wohl mal an den Punkt, wo ein einschätzender Blick auf die eigene Person zu einer Art Bilanz führt. Wer bin ich? Welchen Platz nehme ich in der Gesellschaft ein? Welche Ziele habe ich? Da wird abgewogen, man vergleicht sich vielleicht mit anderen, fühlt sich unsicher, formuliert Forderungen an sich selbst … Julia Engelmann spricht davon aus der Perspektive einer jungen Frau, sieben Jahre nach dem Abschluss ihrer Schulzeit. Und Jacqueline Barkhüser trug dies beim Freitagssalon am 28. Oktober 2022 vor.

Lesedauer gut vier Minuten

ERWACHSENSEIN FEAT. QUARTERLIFE-CRISIS 
anlässlich meines siebenjährigen Ich-geh-nicht-mehr-zur Schule-Jubiläums. 
SIEBEN?! WHAT THE F***??? 

Ihr fragt nicht, was ich werden will, 
ihr fragt mich, was ich bin. 
Wenn ich das nur wüsste! 
Vielleicht alles? Nur kein Kind. 

Ihr wolltet meine Fantasie, 
und mir fiel das Träumen schwer. 
Und jetzt wollt ihr meine Wahrheit, 
das erschreckt mich noch viel mehr. 

Was ich bin? 

Ich bin: 
mal bei mir, mal zerrissen, 
anders und älter, als ich dachte. 
ich bin nicht immer sicher, 
ob ich, was ich will, auch schaffe. 

Wenn mich jemand siezt, 
will ich immer ganz laut lachen. 
Denkt der etwa, ich bin groß? 
Das ist kompletter Schwachsinn. 

Ich fühl mich manchmal fünfzig, 
dann wieder zwölf bis achtzehn. 
Im Schnitt bin ich vermutlich 
also wirklich Mitte zwanzig.

Ich würde gern und kann nicht 
immer alles richtig machen. 
Summa summarum bin ich 
allerhöchstens relativ erwachsen… 

… genug für einen Rückblick 
und die Frage: Bin ich glücklich? 
Was will, wer bin ich wirklich? 
Was ist alles für mich möglich? 

Ich gebe zu, ich hab mir das anders vorgestellt. 
Ich dachte, es gibt einen großen magischen Moment, 
in dem ich erwachsen werde, wenn ich …. 

… ohne Hilfe Fahrrad fahr, 
vorm Schlafengehen malen darf, 
mich in dunkle Keller traue, 
meine Eltern nicht mehr brauche, 
endlich laut vor anderen rede, 
im Supermarkt die Theke sehe, 
in die Siebte, in die Neunte, 
aus der Schule, an die Uni gehe, 
alleine in den Urlaub fahre, 
rote Lippen, hohe Schuhe trage. 
mich keiner nach dem Ausweis fragt, 
ich endlich Wein zu Käse mag, 
Wohnung, Partner, Spülmaschine, 
Trenchcoat, Job und Konto hab.
Und wenn niemand mehr sagt: 
„Dafür bist du zu klein.“
Wenn ich öfter sage: 
„Ich mach das allein.“ 

Doch was ich auch erreiche, 
ich hör nicht auf zu zweifeln. 
Gar nichts scheint sie zu heilen, 
meine Quarterlife-Crisis. 

Ich gebe zu, ich bin verunsichert, 
weil alle anderen all das zu sein scheinen, 
was ich gerne wäre, aber nicht bin ..

Ich hab nur kurz runtergeguckt, 
meine Schnürsenkel gebunden. 
In dieser einen Sekunde haben 
ich alle um mich herum gefunden.

Plötzlich feiern alle Hochzeit, 
ziehen zusammen, kriegen Kinder. 
Und ich schlaf mit meinem Laptop, 
kann nicht flirten, kann nicht tindern. 

Alle machen ihren Master, 
wirken plötzlich so gesettelt. 
Ich konnte währenddessen 
zu ’nem Mittelscheitel wechseln! 

Ich habe genau dieselben Krisen, 
die mich mit vierzehn genervt haben. 
Ich frage mich gerade ernsthaft, 
ob ich gar nichts gelernt habe. 

Ich arbeite schon lange, 
doch es fühlt sich nicht so an. 
Ich bin immer noch dabei, 
meine Zukunft durchzuplanen.

Langsam hebt sich der Verdacht, 
dass das für immer so bleibt, 
dass ich mich frage, was mal wird, 
bis an das Ende meiner Zeit.

Vielleicht bin ich ja auch glücksimmun? 
Was, wenn ich das gar nicht kann? 
Wenn ich nicht ankomme und finde, 
wofür eigne ich mich dann?

Jeden Tag erstelle ich Listen, 
es gibt so vieles, was ich müsste. 
Sosehr ich das Gefühl vermisse: 
Ich bin auch nicht mehr die Jüngste.

Ich fühle mich so allein damit, 
dass ich nicht weiß, wie man lebt, 
doch immer wieder stell ich fest, 
dass es auch anderen so geht.

Ich bin nicht sicher, was mich mehr verwirrt:
die Vorstellung, dass alle es wissen außer mir, 
oder die Vorstellung, dass niemand es weiß? 
Da beißt sich die Katze in den Schwanz! 
Alle denken, sie müssten alles wissen, 
und deshalb tut jeder so als ob, 
und dann sieht jeder nur andere, 
die scheinbar alles wissen. 
Deshalb sage ich das jetzt laut: 
Ich weiß nicht, wie man lebt. 

Aber das macht nichts. 
Weil Leben keine gerade Linie ist 
und auch nie so gedacht war. 
Und weil ich stolz auf alles bin, 
was ich bisher schon geschafft hab. 

Vielleicht bin ich längst erwachsen, wenn … 

… die Krisenphasendauer sinkt, 
die Selbstwirksamkeit ansteigt, 
ich dazu stehe, wie ich bin, 
an Lösungswegen dranbleib, 
ich geliebt werde und liebe, 
Neugier hab und Ziele, 
Verantwortung allein trage, 
Kummer durchgestanden habe, 
wenn ich unabhängig bin 
oder wenigstens ein bisschen, 
wenn ich sie selber schreibe, 
meine eigene Geschichte, 
wenn ich loslasse zu denken, 
dass ich irgendwie perfekt bin, 
und wenn ich trotzdem proaktiv, 
optimistisch und im Jetzt bin.

Ist das nicht merkwürdig?

Es gibt Dinge, die ändern sich nie, 
egal, wie sehr ich danach strebe, 
und Dinge, die längst anders sind, 
während ich das übersehe. 

Ich wachse aus meinen alten Träumen raus, 
das fällt mir manchmal schwer. 
Dafür mag ich meine Wahrheit; 
Vielleicht brauche ich sie nicht mehr. 

Zweifel seien ein Zeichen der Intelligenten, meinte Bertrand Russell, und das trifft auch auf Selbstzweifel zu.
Angehörige der Kommunikationsbranche vermitteln in der Regel gerne Selbstsicherheit und große Überzeugheit von der eigenen Idee. Aber auch sie kennen die schlaflosen Nächte mit dem Gefühl, ein kleines, unbedeutendes Nichts zu sein, ein Sandkorn in der Wüste, ein Stäubchen im Universum. Was wir, letztendlich, ja alle sind, und was eine absolut erleichternde Vorstellung sein kann. Probier den Gedanken mal aus!