Die meisten kennen das schon von Aschenputtel: Kaum ist man den Kinderschuhen entwachsen, passt man in keinen weiteren. Zu eng, zu glatt, zu rot, zu schick, zu …, zu … zu … Vergleiche mit anderen drängen sich auf … Auf einen Prinzen zu bauen, der den passgenauen Schuh liefert, ist nicht ratsam – und überhaupt: Sind es nicht unsere Füße, die uns tragen und Halt geben? Anika Clesle präsentierte beim Freitagssalon am 26. November 2021 den folgenden Text der Poetry-Slammerin Lucia Lucia.
Lesedauer sechs Minuten
Schamhaar um Schamhaar reißt Mathilda sich aus. Steht, das linke Bein verkrampft auf den Beckenrand gestemmt, in der Rechten unter Anstrengung die Pinzette haltend, in Vaters kleinem Badezimmer, wo sie durch den Spiegel gegenüber bei jedem weiteren Blick zwischen ihre fetten Beine auch ein weiteres dieser kleinen Härchen findet, die seit einem Jahr jetzt wie Unkraut aus ihrer Haut sprießen – dort, wo im Sommer das Ende ihres Bikinihöschens den Anfang der Welt markiert, und den der Blicke der Jungs, wenn sie sich auszieht – und wenn sie könnte, würde Mathilda so vieles an sich ändern, aber vor allem würde sie wohl ändern, wie sie aussieht.
Denn in einer Welt voller Prinzessinnen,
die mit zitternden Schritten
und wippenden Titten,
spritzigen Lippen
belegt mit witzigen Sprüchen
ihre bibbernden Rippen
mit Glitzer beschmücken,
für Make-up und Kippen
von Litfaßsäulen blicken,
in einer Welt voller Prinzessinnen,
die an Samstagabenden
vorbei an Langzeitwartenden,
vorbei an endlosen Schlangen
vor den Eingängen der Clubs
kreischend und kichernd
und ineinandergehakt
mit endlosen Beinen
und einem leichten Geruch
nach Kaugummi für die Zähne
und Erdbeersekt für die Seele,
mit Kleidchen für die Szene
und High Heels gegen den Schmutz,
ihre noch nie getragenen,
aspirinbeladenen
Handtäschchen wedelnd
ins Innere des Ladens strömen,
und dann bei jedem Schluck
ihr seidenes Haar
über die Schulter werfen,
tanzen und reden,
als sei da keinerlei Druck,
in einer Welt voller Prinzessinnen,
die vom Schminktischchen aus mit porzellanfeiner Haut,
rosigen Wangen und glasigem Blick
von den Niveapflegeprodukten auf Mathilda herablächeln,
auf Mathilda, die noch immer verspannt und gebückt
vor sich hinabsieht, in den Abgrund der Badewanne,
wo sich gelegentlich auch ein Blutstropfen auf Keramik weitet,
aber Mathilda erschreckt das nicht:
Wer schön sein will, muss eben leiden –
vor allem, wenn er hässlich ist.
Und Schamhaar um Schamhaar
reißt Mathilda sich aus.
Aber die Scham bleibt, wo die Scham war:
in Mathilda zu Haus‘.
Unten im Wohnzimmer sitzt der Vater. Sitzt alleine und wartet. In den bereits gedeckten Tisch zieht er feine Kreise mit der Gabel und fragt sich, wann sie beide eigentlich zuletzt gemeinsam zu Abend gegessen haben. Er kann’s nicht sagen. Denn immer, wenn er anfängt, Nudeln zu kochen oder Kartoffeln zu schneiden, ist Mathilda entweder nicht da oder kann doch nicht bleiben, und ihre vegane Ernährung, die scheint dem Vater langsam auch eher so ein Deckwort zu sein für gar keine Ernährung, vielleicht so eine Phase wäre ja auch nichts Neues für Mathilda hat der Vater ja schon manche Phase mitgemacht hat er ja manche verrückte Idee und manchen Wahnsinn aber wo ist eigentlich die Grenze zwischen Mathilda vertrauen und eingreifen müssen ist so schwer zu finden und dieses Mal ist der Vater sich einfach nicht sicher sollte er mal mit Mathilda reden konnte ihre Mutter am besten ließ er sie erst einmal in Ruhe vielleicht würde sich diese Phase ja von alleine wieder legen und wo liegt eigentlich das Problem Mathilda ist doch so ein schönes Mädchen war Mathilda auch bevor sie abgenommen hat Mathilda häufiger so wirklich laut mit Lachfalten gelacht hat sie schon lange nicht mehr war es dem Vater so schwergefallen, irgendeinen Zusammenhang zu erkennen.
Der junge Mann ist Student. Kulturwissenschaften im dritten Semester und darauf auch ordentlich eingebildet, sein Bart seit er zwanzig ist endlich lückenlos und seine Konturen immer gepflegt. Er mag es nicht, als junger Mann bezeichnet zu werden, er spricht auch keine jungen Frauen an, aber gelegentlich legt er sich ein Mädchen auf sein Kopfkissen: Er mag Mädchen, und Mädchen mögen seinen Bart. Neben ihm an der Bar steht ein enger Rock und bestellt sich einen Caipi. 4,50 €, das geht auf ihn, überrascht dreht sie sich zu ihm um. Sie ist jung, blond und sehr stark geschminkt, ihr Händedruck ist lose, er vergisst ihren Namen schon während sie ihn ausspricht.
Er hat Mathilda nach ihrem Namen gefragt und ihr einen Drink ausgegeben, und sie hat sich gefreut, denn er war nicht nur älter, sondern sah auch gut aus, und als er sie dann bat, mit zu ihm nach Hause zu kommen, da hatte sie sich irgendwie besonders gefühlt. Deswegen versteht sie auch jetzt die Tränen nicht, die sich vor ihren Füßen mit dem Wasser des Duschkopfs mischen, denn sie sollte sich doch freuen, oder nicht? Das hatte sie doch gewollt – oder nicht? Dass jemandes gierige Lippen sich auf ihren Nacken legen, jemandes Hände unter ihren Rock fassen, sie wollte doch jemandes Zunge in ihrem Rachen, jemandes Finger an ihrem Schopf, sie wollte doch ausreichen, sie wollte doch zieh dich aus und du bist so schön und gib’s mir und jetzt dreh dich schon um, das hatte sie doch gewollt, also warum steht sie jetzt weinend unter der Dusche und versucht, sich seine Hände von der Haut zu waschen, obwohl das doch sicherlich jeder Prinzessin so ging? Dass sie sich danach eben ein bisschen beschmutzt fühlte und ein bisschen verdreckt, das ging doch sicherlich jeder Prinzessin so, nur dass sie, Mathilda, eben keine Prinzessin war, nur dass sie eben nie tief genug würde schlucken können, und sie kann nicht mehr, sie kann nicht mehr, sie kann sich verdammt nochmal nicht noch länger über Wasser halten – also steckt sie den Stöpsel und lässt sich ins Wasser gleiten, und auf dem Grund der Badewanne ist endlich alles ganz still.
Und draußen steht der Vater.
Steht dort leise und atmet.
Doch als Mathilda weiter nicht antwortet,
schreit er verzweifelt ihren Namen,
schlägt mit den Fäusten gegen das Holz,
aber die Tür gibt einfach nicht nach,
schlägt mit den Fäusten gegen das Holz,
aber die scheiß Tür gibt einfach nicht nach,
schlägt mit dem Hammer gegen das Holz,
und als das Holz endlich bricht,
ist das Erste, was er sieht,
Mathildas seidenes Haar,
das ruhig und gelassen
an der Oberfläche schwebt,
an der Oberfläche, durch die der Vater
schweigend und klar
ihre Arme betrachten kann, die gemacht waren,
um andere darin zu halten,
ihre Hände die gemacht waren,
um andere Hände darein zu nehmen,
ihre Beine, die gemacht waren
um andere Beine zu begleiten,
ihre Füße, die gemacht waren,
um zu kurz oder zu weit zu gehen,
ihre Rippen, die gemacht waren,
ihr Herz zu tragen,
ihre Knie, die beinahe anmutig
aus dem Wasser ragen,
er betrachtet ihre porzellanfeine Haut
und die glasigen Augen
und weint,
denn dieser Körper war vielleicht kein Tempel –
aber jemandes Zuhause.
Vergleiche sind ein Ausdruck von Konkurrenzdenken und in der herrschenden Gesellschaftsform ein mächtiger Treiber. Die Kommunikationsbranche ist keine Ausnahme; davon zeugen eine große Anzahl an Wettbewerben und Preisen.
Natürlich ist es schön, einen Effie, einen ADC Grand Prix oder sogar einen Löwen in Cannes zu gewinnen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Prozeduren, die zu einer Auszeichnung führen, nicht ausschließlich mit einer neutralen, fairen und ausgewogenen Beurteilung von Qualität zu tun haben. Es ist vielmehr eine Gemengelage von Qualität, Taktik, Anti- und Sympathie, Neid, Missgunst, Trend und Tunnelblick.
Mach also dein Selbstwertgefühl nicht von einem Nagel abhängig; du bist dir Besseres schuldig.