„Die Taube“ von Patrick Süskind (1987)

Einer lähmenden Erscheinung sieht sich Jonathan gegenüber, als er seine Wohnung verlassen will. Der Schreck jagt ihn zurück ins Bett, wo er von einer wilden Gedankenflut überwältigt wird und mit den Folgen für Leib und Seele zu kämpfen hat. Diesen Buchausschnitt präsentierte Irina Papazoglou am 10. Juni 2022 beim Freitagssalon und stellte ihn uns freundlicherweise zur Verfügung.

Lesedauer sieben Minuten

Sie hatte den Kopf zur Seite gelegt und glotzte Jonathan mit ihrem linken Auge an. Dieses Auge, eine kleine, kreisrunde Scheibe, braun mit schwarzem Mittelpunkt, war fürchterlich anzusehen. Es saß wie ein aufgenähter Knopf am Kopfgefieder, wimpernlos, brauenlos, ganz nackt, ganz schamlos nach außen gewendet und ungeheuer offen; zugleich aber war da etwas zurückhaltend Verschlagenes in dem Auge; und zugleich wieder schien es weder offen noch verschlagen, sondern ganz einfach leblos zu sein wie die Linse einer Kamera, die alles äußere Licht verschluckt und nichts von ihrem Inneren zurückstrahlen läßt. Kein Glanz, kein Schimmer lag in diesem Auge, nicht ein Funken von Lebendigem. Es war ein Auge ohne Blick. Und es glotzte Jonathan an.

Er sei zu Tode erschrocken gewesen – so hätte er den Moment wohl im nachhinein beschrieben, aber es wäre nicht richtig gewesen, denn der Schreck kam erst später. Er war viel eher zu Tode erstaunt.

Vielleicht fünf, vielleicht zehn Sekunden lang – ihm selbst kam es vor wie für immer – blieb er, die Hand am Knauf, den Fuß zum Ausschreiten erhoben, wie angefroren auf der Schwelle seiner Türe stehen und konnte nicht vor und nicht zurück. Dann geschah eine kleine Bewegung. Sei es, daß die Taube von einem Fuß auf den anderen trat, sei es, daß sie sich nur ein wenig plusterte – jedenfalls ging ein kurzer Ruck durch ihren Körper, und gleichzeitig schnappten zwei Lider über ihrem Auge zusammen, eines von unten, eines von oben, keine richtigen Lider eigentlich, sondern eher irgendwelche gummiartigen Klappen, die wie zwei aus dem Nichts entstandene Lippen das Auge verschluckten. Für einen Moment war es verschwunden. Und jetzt erst durchzuckte Jonathan der Schreck, jetzt sträubten sich seine Haare vor blankem Entsetzen. Mit einem Satz sprang er zurück ins Zimmer und schlug die Türe zu, eh noch das Auge der Taube sich wieder geöffnet hätte. Er drehte das Sicherheitsschloß, wankte die drei Schritte zum Bett, setzte sich zitternd, mit wild klopfendem Herzen. Seine Stirn war eiskalt, und im Nacken und das Rückgrat entlang spürte er, wie ihm der Schweiß ausbrach.

Sein erster Gedanke war, daß er nun einen Herzinfarkt erleiden werde oder einen Schlaganfall oder mindestens einen Kreislaufkollaps, für all das bist du im richtigen Alter, dachte er, ab Fünfzig genügt der geringste Anlaß für so ein Malheur. Und er ließ sich seitlich aufs Bett fallen und zog die Decke über seine fröstelnden Schultern und wartete auf den krampfartigen Schmerz, auf das Stechen im Brust- und Schulterbereich (er hatte einmal in seinem medizinischen Taschenlexikon gelesen, daß dies die untrüglichen Infarktsymptome seien) oder auf das langsame Verdämmern des Bewußtseins. Aber dann geschah nichts dergleichen. Der Herzschlag beruhigte sich, das Blut strömte wieder gleichmäßig durch Kopf und Glieder, und Lähmungserscheinungen, wie sie für den Schlaganfall typisch sind, traten nicht auf. Jonathan konnte Zehen und Finger bewegen und sein Gesicht zu Grimassen verziehen, ein Zeichen, daß organisch und neurologisch alles einigermaßen in Ordnung war.

Stattdessen wirbelte nun eine wüste Masse völlig unkoordinierter Schreckensgedanken in seinem Hirn herum wie ein Schwarm von schwarzen Raben, und es schrie und flatterte in seinem Kopf, und „du bist am Ende!“ krächzte es, „du bist alt und am Ende, du läßt dich von einer Taube zu Tode erschrecken, eine Taube treibt dich in dein Zimmer zurück, wirft dich nieder, hält dich gefangen. Du wirst sterben, Jonathan, du wirst sterben, wenn nicht sofort, dann bald, und dein Leben war falsch, du hast es verpfuscht, denn es wird von einer Taube erschüttert, du mußt die töten, aber du kannst sie nicht töten, keine Fliege kannst du töten, doch, eine Fliege schon, gerade noch eine Fliege oder eine Schnake oder einen kleinen Käfer, aber niemals ein warmblütiges Ding, ein pfundschweres warmblütiges Wesen wie eine Taube, eher schießt du einen Menschen über den Haufen, piffpaff, das geht schnell, das macht nur ein kleines Loch, acht Millimeter groß, das ist sauber und ist erlaubt, in Notwehr ist es erlaubt, Paragraph eins der Dienstordnung für bewaffnetes Wachpersonal, es ist sogar geboten, kein Mensch macht dir einen Vorwurf, wenn du einen Menschen erschießt, im Gegenteil, aber eine Taube?, wie erschießt man eine Taube?, das flattert, eine Taube, das verfehlt man leicht, das ist grober Unfug, auf eine Taube zu schießen, das ist verboten, das führt zum Einzug der Dienstwaffe, zum Verlust des Arbeitsplatzes, du kommst ins Gefängnis, wenn du auf eine Taube schießt, nein, du kannst sie nicht töten, aber leben, leben kannst du auch nicht mit ihr, niemals, in einem Haus, wo eine Taube wohnt, kann ein Mensch nicht mehr leben, eine Taube ist der Inbegriff des Chaos und der Anarchie, eine Taube, das schwirrt unberechenbar umher, das krallt sich ein und pickt in die Augen, eine Taube, das schmutzt unablässig und stäubt verheerende Bakterien aus und Meningitisviren, das bleibt nicht allein, eine Taube, das lockt andere Tauben an, das treibt Geschlechtsverkehr und zeugt sich fort, rasend schnell, ein Heer von Tauben wird dich belagern, du kannst dein Zimmer nicht mehr verlassen, wirst verhungern, wirst in deinen Exkrementen ersticken, wirst dich zum Fenster hinausstürzen müssen und am Bürgersteig zerschmettert liegen, nein, du wirst zu feige sein, du wirst in deinem Zimmer eingeschlossen bleiben und um Hilfe schreien, nach der Feuerwehr wirst du schreien, damit man mit Leitern komme und dich vor einer Taube rette, vor einer Taube!, zum Gespött des Hauses, zum Gespött des ganzen Viertels wirst du werden, ,seht Monsieur Noel!‘ wird man rufen und mit Fingern auf dich zeigen, ,seht, Monsieur Noel läßt sich vor einer Taube retten!‘, und man wird dich einweisen in eine psychiatrische Klinik: o Jonathan, Jonathan, deine Lage ist hoffnungslos, du bist verloren, Jonathan!“

Solcherart schrie und krächzte es in seinem Kopf, und Jonathan war so verwirrt und verzweifelt, daß er etwas tat, was er seit seinen Kindertagen nicht mehr getan hatte, er faltete nämlich in seiner Not die Hände zum Gebet, und „mein Gott, mein Gott“, betete er, „warum hast du mich verlassen? Warum werde ich so sehr gestraft von dir? Vater unser, der du bist im Himmel, rette mich vor dieser Taube, Amen!“ Es war, wie wir sehen, kein ordentliches Gebet, es war eher ein aus den Erinnerungsbruchstücken seiner rudimentären religiösen Erziehung zusammengestückeltes Gestammel, das er da von sich gab. Aber es half trotzdem, denn es verlangte ihm ein gewisses Maß geistiger Konzentration ab und verscheuchte dadurch den Gedankenwirrwarr. Etwas anderes half ihm noch stärker. Kaum hatte er nämlich sein Gebet zu Ende gesprochen, da spürte er einen so unabweisbaren Drang zu pissen, daß er wußte, er würde sein Bett, auf dem er lag, besudeln, die schöne Federkernmatratze oder gar den schönen grauen Teppich, wenn es ihm nicht gelänge, sich innerhalb der nächsten Sekunden anderweitig Erleichterung zu schaffen. Das brachte ihn vollends zu sich. Ächzend stand er auf, warf einen verzweifelten Blick zur Tür … – nein, er könnte nicht durch diese Türe gehen, selbst wenn der verfluchte Vogel jetzt weg wäre, er würde es nicht mehr bis zur Toilette schaffen –, trat ans Waschbecken, riß den Bademantel auf, riß die Pyjamahose herunter, öffnete den Wasserhahn und pißte in das Becken.

Er hatte so etwas noch nie zuvor getan. Ein Horror allein der Gedanke, in ein schönes, weißes, blankgeputztes, der Körperpflege und dem Geschirrspülen dienendes Waschbecken einfach hineinzupissen! Niemals hätte er geglaubt, daß er so tief würde sinken können, niemals, daß er überhaupt physisch in der Lage wäre, ein solches Sakrileg zu begehen. Und nun, da er sah, wie seine Pisse ohne jede Hemmung und Verhaltung lief, sich mit dem Wasser vermischte und durch den Abfluß davongurgelte, und da er das großartige Nachlassen des Drucks in seinem Unterleib spürte, da liefen ihm zugleich die Tränen aus den Augen, so sehr schämte er sich. Als er fertig war, ließ er das Wasser noch eine Weile lang laufen und putzte das Becken gründlich mit flüssigem Scheuerpulver, um auch die kleinsten Spuren der begangenen Untat zu beseitigen. „Einmal ist keinmal“, murmelte er vor sich hin, wie um sich vor dem Waschbecken, vor dem Zimmer oder vor sich selbst zu entschuldigen, „einmal ist keinmal, es war eine einmalige Notlage, es wird gewiß nicht wieder vorkommen …“

„Einmal ist keinmal“ oder die Frage nach der moralischen Verantwortung: Soll man für eine Zigarettenmarke arbeiten, obwohl deren Schädlichkeit seit Jahrzehnten bewiesen ist? Kann man seine Hirnzellen und seine Gefühlswelt guten Gewissens für Konsumkredite oder Autoleasing einsetzen? Ist die katholische Kirche eine moralisch einwandfreie Auftraggeberin? Oder, als Gegenposition, ist alles, was nicht verboten ist, erlaubt, und kann man deshalb ohne moralische Skrupel auch für Hersteller von Lenkwaffensystemen und opioidhaltigen Schmerzmitteln Kommunikation betreiben?
Die Antwort liegt bei dir. Auf jeden Fall ist es ratsam, dir eine klare Meinung zu diesem Thema zu bilden.

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