Gibt es die Liebe? Wie zeigt sie sich in unserem Leben? Wie lässt sie sich aufspüren? Wie in Worte fassen? Unzählige Autoren haben sich dieser Aufgabe gestellt und auch Rafael Sperling, ein brasilianischer Musiker und Autor, hat sich im folgenden Text Gedanken dazu gemacht. Für ihren Beitrag zum Freitagssalon übersetzte Anna-Lena Müller den Text und trug ihn uns am 26. November 2021 vor.
Lesedauer vier Minuten
Was ist mit Liebe? Die große Liebe. Die Liebe, die voller Menschen ist. Verdammt nochmal groß. Die Liebe, die Rohre verstopft. Die Liebe von verrückten, schizophrenen Leuten, die gerne ihren Kopf gegen die Wand hauen und in Güllefässern Dart spielen. Eine Liebe mit langen Beinen und gelben Vinylstiefeln, die Steaks und Pommes zubereitet auf dem Gipfel eines Berges. Verschuldet und mit Kakao verschmiert. Früh am Morgen, träumend von Leuten, die zerfressen sind von Hass. Die, die Gewichte stemmt, um stärker zu werden und logische Gesetze aufstellt. Auf einer Platin-Platte im Museum und die Angst hat, über die Straße zu gehen. Stepptanzend in einer grünen Uniform und sich festklammernd, damit sie nicht in den Abgrund stützt. In einem Eisbehälter verstaut und in einem Flugzeug nach Frankreich sitzend. Mit Metallkopfhörern und mit Hutkrempe. Mitten in einem Grillfeuer und innendrin im Augenlid. Einen Aufzugschacht runterspringend und eine Schraube festziehend. Auf Holz rumkauend und die Kassenbelege überprüfend. Unter der Wüstensonne und neben der Zahnseide. Aus einer Wasserfontäne raussprudelnd und eine Kugelkette hinter sich herziehend. Die, die sagt: „Das sind hochqualitative Messer“ und „Ich bin definitiv ein Zwitter“. Ein Balletoutfit tragend und Straßenpenner vermöbelnd. Als Gewürz benutzt werdend und lila Nagellack auftragend. Die, die daran gewöhnt ist, Priester umzubringen, und als Gleitgel verwendet wird. Die, die wie eine Bowlingkugel gegen das Gesicht des Präsidenten der Hausbesitzervereinigung geworfen wird. Nackt eine Straße runterrennend und dabei verzweifelnd onanierend. Die, die versucht, die Badezimmerwand einzureißen, weil es kein Klopapier mehr gibt. An Stromkabeln rumlutschend und in weiche Kissen reinschlagend.
Tatzenliebe. Rückwärtskickliebe. Verrottete Tangerinenliebe. Liebe mit schmelzenden Glaswürfeln. Liebe mit Phlegma-Geschmack. Die Liebe, die ich in einem Sandwich gefunden habe. Die Liebe, die über entzündliche Telefone gesprochen hat. Liebe mit falschem Silikonbauch.
Und die Liebe, die schon da ist und ihr Leben umkrempeln will und deshalb nach Rat fragt.
„Ich habe die Schnauze voll von so vielen Dingen“, sagte die Liebe.
„Du solltest bestimmten Dingen aus dem Weg gehen“, sagte ich.
„Aber es ist schwer, Dingen aus dem Weg zu gehen, wenn sie überall sind“, sagte sie.
„Welchen Dingen möchtest du aus dem Weg gehen?“
„Allen“, sagte sie. „Allen, die es gibt.“
„Was stimmt denn nicht mit diesen Dingen?“
„Die Sache ist halt, dass sie existieren.“
„Natürlich existieren sie“, sagte ich.
„Ja, aber ich existiere nicht.“
Der Junge ging und fiel hin. Er hat seinen Mund an einer rostigen Dose angeschlagen und seine Zähne abgebrochen. Er wurde zum Krankenhaus gebracht. Ein paar Tage später war sein Gesicht entzündet, verwesend, mit Eiter bedeckt. Sie mussten sein komplettes Gebiss ziehen, aber es half alles nichts. „Wir müssen seinen Kopf amputieren, damit der Rest seines Körpers nicht beeinträchtigt wird.“ Sie legten den Kopf des Jungen unter eine Guillotine und fragten, ob er noch irgendwas zu sagen hätte, bevor sie ihn köpfen würden.
„Das ist LIEBE“, sagte der Junge.
Die Frau war zu Hause. Fünfzehn Diebe brachen ein. Sie zerstörten alles, stellten die ganze Bude auf den Kopf. Sie fragten, wo ihr Schmuck sei. Sie sagte, sie habe keinen. Sie drohten an, die Frau zu töten, wenn sie ihren Schmuck nicht rausrücken würde. Die Frau weinte und sagte, es wäre keine Lüge. Die Männer schnappten sich ein paar Brecheisen und fingen an, auf die Frau einzuschlagen. Gerade dann kam ihr Mann nach Hause. Schon von draußen sah er, was passierte. Er kam bewaffnet rein, mit sehr viel Liebe, und ging auf die Diebe los. Sie rissen den Ehemann in Stücke, vergewaltigten die Frau, bevor sie ihr Leben nahmen. Mit Liebe.
Der kleine Junge ging zur Toilette. Er hatte noch nie diese Einrichtung benutzt, die Urin und Fäkalien entsorgt. Er hatte Probleme, sich hinzusetzen, aber ergoss sich bald schon in die Schüssel. Dann rief er seine Mutter.
„Was ist los?“ fragte sie.
„Es ist Liebe, Mama.“
Die Liebe kam früh morgens in ein BBQ-Restaurant. Sie fing an zu essen. Sie aß viel, über mehrere Stunden hinweg.
„Ist alles in Ordnung? Glauben Sie nicht, sie haben schon genug gegessen?“
„Nein. Ich bin immer noch hungrig.“
Sie aß weiter. Ein paar Stunden später fing sie an vor Schmerz zu schreien. Innerhalb weniger Sekunden, zerriss sich ihr Körper. Sie hörte immer noch nicht auf zu essen. Kurze Zeit später, nachdem die Liebe vom zu vielen Essen gestorben war, machte jemand folgenden Kommentar: „Liebe ist keine bestimmte Sache, sie ist alles, was sie nicht ist.“
Und die Leute blieben weiterhin sie selbst. Was mich betrifft, ich bin immer noch, was ich nicht bin.
Kann man „weiterhin man selbst bleiben“? Oder verändert man sich, bestenfalls in die gewünschte Richtung? Eigentlich keine Frage: Alles verändert sich, und es ist recht schwierig, herauszufinden, ob man sich wegen der Welt oder ob sich Welt wegen einem selbst ändert.
Die Kommunikationsbranche verändert sich besonders schnell und besonders stark. Das macht ihren Reiz aus und trägt dazu bei, dass du, auch mit, sagenwirmal, Mitte Fünfzig neugierig sein wirst und Fragen stellen wirst. You’ll be forever young. (Gibt es ein besseres Versprechen?)