„Der Fürst des Nebels“ von Carlos Ruiz Zafón (2016)

Der 13-jährige Max zieht mit seinen Eltern und der jüngeren Schwester aus einer vom Krieg bedrohten Stadt ans Meer, dessen Anblick ihn sofort einnimmt. Der leicht verschlafen wirkende Ort, wo sie nun wohnen werden, erscheint ihm friedlich, und die kleine Schwester freundet sich auf Anhieb mit einer Katze an. Aber wie so oft, täuscht auch hier der erste Eindruck. Beim Freitagssalon am 26. November 2021 wurde dieser Buchausschnitt von India Marie Rovati Hering vorgelesen und uns anschließend zur Verfügung gestellt.

Lesedauer vier Minuten

Max hatte einmal in einem der Bücher seines Vaters gelesen, dass sich manche Bilder aus der Kindheit wie Fotografien ins Album der Erinnerung einprägten, Szenen, zu denen man immer wieder zurückkehrte, ganz gleich, wie viel Zeit verging. Max verstand den Sinn dieser Worte, als er zum ersten Mal das Meer sah. Sie saßen seit über drei Stunden im Zug, als sich plötzlich bei der Ausfahrt aus einem dunklen Tunnel eine endlose Fläche aus Licht und Helligkeit vor seinen Augen ausbreitete. Das elektrische Blau des Meeres, das unter dem Mittagshimmel glitzerte, brannte sich wie eine übernatürliche Erscheinung in seine Netzhaut. Das aschfarbene Licht, in das die Altstadt stets getränkt war, schien nur noch eine ferne Erinnerung. Max kam es vor, als hätte er die Welt zeitlebens in Schwarzweiß gesehen und mit einem Mal wäre sie zum Leben erwacht, in leuchtenden, kräftigen Farben, die er beinahe berühren konnte. Während der Zug am Meer entlangfuhr, streckte Max den Kopf aus dem Fenster und spürte zum ersten Mal den salzgeschwängerten Wind auf seiner Haut. Er drehte sich zu seinem Vater um, der ihn mit einem geheimnisvollen Lächeln aus seiner Ecke des Zugabteils betrachtete, während er zu einer Frage nickte, die Max gar nicht gestellt hatte. In diesem Moment wusste er, dass es egal war, wohin diese Reise sie führte und in welchem Bahnhof der Zug hielt; von diesem Tag an würde er nie wieder an einem Ort leben, von dem aus er nicht jeden Morgen beim Aufwachen dieses blendende blaue Licht sehen würde, das wie ein magischer, durchsichtiger Dunst in den Himmel aufstieg. Es war ein Versprechen, das er sich selbst gab. 
Während Max dem Zug hinterhersah, der aus dem Bahnhof davonfuhr, ließ Maximilian Carver seine Familie ein paar Minuten mit dem Gepäck vor dem Büro des Stationsvorstehers stehen, um mit einem der örtlichen Fuhrunternehmer einen vernünftigen Preis auszuhandeln, zu dem dieser Gepäckstücke, Personen und sonstigen Krimskrams zum endgültigen Ziel bringen sollte. Nachdem Max den Bahnhof und die ersten Häuser gesehen hatte, deren Dächer vorsichtig über die umstehenden Bäume lugten, hatte er den Eindruck, sich in einem winzigen Spielzeugdorf zu befinden, einer Miniaturlandschaft, wie von einem Modelleisenbahnsammler gebaut. Es war, als könnte man von der Tischplatte fallen, wenn man sich zu weit vorwagte. Dieser Gedanke erschien ihm eine interessante Variation zu Kopernikus‘ Theorie über die Erde, als ihn die Stimme seiner Mutter aus seinen kosmischen Träumereien riss. 
„Und? Bestanden oder durchgefallen?“ 
„Das wird sich zeigen“, antwortete Max. „Es sieht aus wie ein Spielzeugdorf. Wie aus dem Schaufenster einer Spielwarenhandlung.“ 
„Vielleicht ist es so“, sagte seine Mutter lächelnd, und Max konnte in ihrem Gesicht einen schwachen Abglanz seiner Schwester Irina erkennen. 
„Aber sag das nicht deinem Vater“, setzte sie hinzu. „Da kommt er.“
Maximilian Carver kehrte in Begleitung zweier stämmiger Fuhrunternehmer zurück, die mit Fettflecken, Ruß und allerlei anderen unidentifizierbaren Substanzen beschmiert waren. Beide trugen buschige Schnurrbärte und Matrosenmützen, als sei das ihre Berufsuniform. 
„Das sind Robin und Philip“, erklärte der Uhrmacher. „Robin nimmt die Koffer mit und Philip die Familie. Einverstanden?“ 
Max war nicht klar, wer Philip war und wer Robin, und er fragte sich, ob sie selbst es wussten, aber er entschied sich, besser den Mund zu halten. Ohne die Zustimmung der Familie abzuwarten, steuerten die beiden Muskelprotze auf den Gepäckhaufen zu und luden sich ohne das geringste Anzeichen von Anstrengung gezielt die größten Stücke auf. Max zog seine Uhr hervor und betrachtete das Zifferblatt mit den lächelnden Monden. Die Zeiger zeigten zwei Uhr mittags. Die alte Bahnhofsuhr zeigte halb eins. 
„Die Bahnhofsuhr geht falsch“, murmelte Max. 
„Siehst du?“, antwortete sein Vater begeistert. „Kaum angekommen, und schon haben wir Arbeit.“ 
Seine Mutter lächelte nachsichtig, wie sie es angesichts von Maximilian Carvers ungetrübtem Optimismus immer tat, aber Max entdeckte in ihren Augen eine Spur von Traurigkeit und dieses eigenartige Schimmern, das ihm von klein auf das Gefühl gegeben hatte, dass seine Mutter Dinge in der Zukunft sehen konnte, von denen die anderen keine Ahnung hatten. 
„Alles wird gut, Mama“, sagte Max, aber gleich nachdem er diese Worte ausgesprochen hatte, fühlte er sich wie ein Idiot. 
Seine Mutter streichelte ihm über die Wange und lächelte. 
„Natürlich, Max. Alles wird gut.“ 
In diesem Moment hatte Max das sichere Gefühl, beobachtet zu werden. Er schaute sich rasch um und konnte sehen, wie ihn eine dicke Katze durch das Eisengitter eines Bahnhofsfensters unverwandt anstarrte, als könne sie seine Gedanken lesen. Dann blinzelte sie und sprang mit einem Satz, den man – Katze hin oder her – von einem Tier ihrer Größe nicht erwartet hätte, zu der kleinen Irina und rieb ihren Rücken an den weißen Knöcheln von Max‘ Schwester. Das Mädchen kniete sich hin, um das Tier zu streicheln, das leise miaute. Irina nahm es auf den Arm, und die Katze ließ sich sanft wiegen, während sie zärtlich die Finger des Mädchens leckte, das wie verzaubert lächelte. Die Katze auf dem Arm, ging Irina zu ihrer wartenden Familie. 

Es gibt erste Erlebnisse, die unvergesslich sind; das erste Mal das Meer sehen gehört sicher dazu. Wenn es einer Kampagne gelingt, ein solches Schlüsselmoment einzufangen und emotional packend umzusetzen, dann ist das hervorragendes Handwerk. Zwei Dinge braucht’s dazu: einen relevanten Client Insight und eine kanalunabhängige kreative Idee. Wenn diese beiden Komponenten vorliegen, dann macht die Kampagnenarbeit richtig Spaß. Und sie wird (messbaren) Erfolg haben.