„Deutsche beim Fleisch“ aus „In einer deutschen Pension“ von Katherine Mansfield (1911)

1909 unternimmt die 21-jährige Neuseeländerin Katherine Mansfield eine Reise von London, ihrem damaligen Wohnort, nach Bad Wörishofen. Wegen einiger die Familienehre in Gefahr bringenden Eskapaden der jungen Frau hatte ihre Mutter ihr kurzerhand eine „Kur“ verordnet. Katherine hält – wie zu Hause auch – ihre Beobachtungen in Erzählungen fest. Hier zum Beispiel eine Frühstücksszene aus der Pension, in der sie untergebracht war.

Lesedauer gut vier Minuten

Die Brotsuppe wurde auf den Tisch gestellt.
„Ah“, sagte der Herr Rat, beugte sich über den Tisch und spähte in die Terrine, „das ist’s, was ich brauche! Mein Magen ist seit mehreren Tagen nicht in Ordnung gewesen. Brotsuppe, und genau die richtige Konsistenz! Ich bin selbst ein guter Koch …“ wandte er sich an mich.
„Wie interessant!“, erwiderte ich und bemühte mich, das genau richtige Maß an Begeisterung in meine Stimme zu legen.
„Doch, ja. Wenn man nicht verheiratet ist, ist es notwendig. Was mich betrifft, hatte ich von den Frauen auch ohne Heirat alles, was ich haben wollte.“ Er stopfte sich seine Serviette hinter den Kragen und blies während des Sprechens auf seine Suppe.
„Um neun Uhr mache ich mir also ein englisches Frühstück – aber nicht zu üppig. Vier Scheiben Brot, zwei Scheiben rohen Schinken, einen Teller Suppe, zwei Tassen Tee – für Sie wäre das ein Nichts!“ Er verkündete es so entschieden als Tatsache, dass ich nicht den Mut hatte, ihm zu widersprechen. 
Aller Augen hefteten sich plötzlich auf mich. Mir war, als wäre ich verantwortlich für das unsinnige Frühstück der ganzen Nation – ich, die ich morgens eine Tasse Kaffee trank, während ich mir die Bluse zuknöpfte.
„Ja, überhaupt nichts!“, rief Herr Hoffmann aus Berlin. „Ach, als ich in England war, da hab ich morgens was gegessen!“ Er richtete Augen und Schnurrbartspitzen himmelwärts und wischte sich die Suppenspritzer von Rock und Weste.
„Essen die Engländer wirklich so viel?“, fragte Fräulein Stiegelauer. „Suppe und frisches Brot und Schweinefleisch und Tee und Kaffee und Kompott und Honig und Eier und kalten Fisch und Nieren und warmen Fisch und Leber? Und alle Damen essen das auch, besonders die Damen?“
„Sicher! Ich habe es selbst festgestellt, als ich in einem Hotel am Leicester Square gewohnt habe!“, rief der Herr Rat. „Es war ein gutes Hotel, aber Tee konnten sie nicht machen, o nein!“
„Oh, das ist etwas, was ich kann!“, sagte ich und lachte stolz. „Ich kann sehr guten Tee machen. Das große Geheimnis ist einfach, die Teekanne anzuwärmen.“
„Die Teekanne anwärmen?“, unterbrach mich der Herr Rat und schob seinen Suppenteller weg. „Wofür wärmen Sie denn die Teekanne? Haha! Das ist ausgezeichnet! Man will doch nicht die Teekanne essen, nehme ich an?“ Er heftete seine kalten blauen Augen mit einem Ausdruck auf mich, der an tausend geplante Invasionen denken ließ. „Das ist also das große Geheimnis des englischen Tees? Sie machen weiter nichts, als die Teekanne anzuwärmen?“ Ich wollte erwidern, dass es nur die Eröffnungsnummer sei, konnte es aber nicht übersetzen und schwieg daher. Das Dienstmädchen brachte Kalbfleisch mit Sauerkraut und Kartoffeln.
„Sauerkraut esse ich besonders gern“, sagte der Handelsreisende aus Norddeutschland, „doch jetzt hatte ich so viel davon, dass ich es nicht bei mir behalten kann. Ich sehe mich sofort genötigt, es …“
„Herrliches Wetter!“, rief ich rasch und wandte mich an Fräulein Stiegelauer. „Sind Sie zeitig aufgestanden?“
„Um fünf Uhr bin ich zehn Minuten durchs nasse Gras gelaufen. Wieder ins Bett. Um halb sechs schlief ich ein und wachte um sieben auf, um meine Morgengymnastik zu machen. Wieder ins Bett. Um acht bekam ich einen kalten Wickel, und um halb neun trank ich eine Tasse Pfefferminztee. Um zehn bekam ich etwas Malzkaffee und begann meine Kur. Könnten Sie mir bitte das Sauerkraut reichen? Nehmen Sie nichts davon?“
„Nein, danke, ich finde es etwas zu kräftig.“
„Stimmt es“, fragte die Witwe und stocherte, während sie sprach, mit einer Haarnadel in den Zähnen, „dass Sie Vegetarierin sind?“
„Ja – ich habe seit drei Jahren kein Fleisch mehr gegessen.“
„Unmöglich! Haben Sie Kinder?“ „Nein.“ 
„Da haben wir’s! Dahin kommt es nämlich mit Ihnen. Es ist unmöglich, Kinder zu bekommen, wenn man nur Gemüse isst. Aber Sie haben ja jetzt ohnehin keinen Kinderreichtum in England – vermutlich haben Sie zu viel mit Ihrem Frauenstimmrecht zu tun. Ich dagegen habe neun Kinder bekommen, und sie sind alle am Leben, Gott sei Dank. Prächtige, gesunde Babys, obwohl ich nach der Geburt meines ersten …“
„Wie wundervoll!“, rief ich.
„Wundervoll?“, entgegnete die Witwe verächtlich und befestigte die Haarnadel wieder im Dutt, der auf ihrem Scheitel thronte. „Überhaupt nicht! Eine meiner Freundinnen hatte gleichzeitig vier Stück bekommen! Ihr Mann hat sich darüber so gefreut, dass er ein Abendessen gab und die Babys auf die Tafel stellen ließ. Sie war natürlich sehr stolz.“
„In Deutschland pflegt man das Familienleben!“, posaunte der Handelsreisende und knabberte an einer Kartoffel, die er auf sein Messer gespießt hatte. Ein anerkennendes Schweigen folgte. Die Teller wurden gewechselt, und es gab Rindfleisch, Johannisbeeren und Spinat. Alle putzten ihre Gabeln am Schwarzbrot ab und begannen wieder zu essen.
„Wie lange bleiben Sie hier?“, fragte der Herr Rat.
„Ich weiß es nicht genau. Im September muss ich wieder in London sein.“
„Natürlich werden Sie sich München ansehen?“
„Leider habe ich nicht genügend Zeit. Es ist wichtig, dass ich meine Kur nicht unterbreche.“ 

Menschen, die ausschließlich ihr eigenes Leben, ihr eigenes Tun und ihre eigene Befindlichkeit zum (Gesprächs-)Thema haben, nennt man Narzissten – sie können die Welt nur durch sich selbst erleben und sind in der Regel äußerst langweilige Gesprächspartner.
Dasselbe gilt für Produktkommunikation, die ausschließlich über das Produkt und nicht über dessen Vorteile für die potenziellen Käufer*innen spricht. Kund*innen kaufen keine Produkte, sie kaufen Lösungen für ihre Probleme. Ein consumer insight hilft.