Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Dass der einfach ist, wird nicht damit gesagt. Mit 23 Jahren verließ Fanny Osbourne im April 1864 ihre Heimatstadt Indianapolis, um mit der fünfjährigen Tochter Belle zu ihrem Mann Sam nach Kalifornien zu reisen. Keine leichte Reise, denn nicht mal eine Bahnstrecke gab es bis dorthin. Also fuhr sie mit der Bahn nach New York, bestieg dort das Schiff nach Aspinwall, musste wegen des vollbesetzten Zuges mit Mulis über Land nach Panama, wo das nächste Schiff Richtung San Francisco abfuhr. Und der letzte Streckenabschnitt bis Austin (Nevada) wurde im Juni 1864 mit Pferden bewältigt. Das alles ohne nennenswerte Geldmittel – die hatte der Gatte schon weitgehend für seine Pläne als Goldminenbesitzer mitgenommen. Allerdings dürften die Reiseerfahrungen der jungen Frau ihr später genützt haben, als es galt, ein Schiff von San Francisco in die Südsee zu chartern, um ihren zweiten Mann, den tuberkulosekranken Robert Luis Stevenson in klimatisch günstigere Gefilde zu bringen. Aber jetzt erst mal Panama.
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„Zu Fuß über die Landenge? Sie scherzen, meine Kleine!“
Sie war schnurstracks zum Hotel zurückgegangen und hatte Mr. Hill geweckt, der mit den anderen Erster-Klasse-Passagieren in den Schlafräumen des ersten Stocks ruhte. Hier waren Männer und Frauen getrennt untergebracht, und ihr Erscheinen am Bett eines Mannes, noch dazu zu dieser Stunde, gab alleine genug Anlaß zu Kommentaren.
„Aber, aber, ich bitte Sie, Sie scherzen doch? Siebzig Kilometer zu Fuß? Und das bei der momentanen Hitze? Denken Sie an das Sumpffieber! … Und wie wollen Sie überhaupt über den Fluß kommen? Es gibt keine Brücke!“
Nicht im mindesten verunsichert, wischte sie dieses Argument einfach zur Seite.
„Selbstverständlich gibt es eine Brücke, Mr. Hill.“
„Und die Berge, der Regenwald, die Sümpfe – siebzig Kilometer lang nichts als Sümpfe … Sie werden sich verlaufen, meine Kleine.“
„Wir werden den Bahngeleisen folgen.“
„Sie werden überfahren werden. Das sind lauter Kurven und Abhänge. Kein Bahndamm, weder rechts noch links. Wenn nun ein Zug kommt?“
„Wie sollte er? Es gibt keinen Zug.“
„Aber bald wird es einen geben … nur Geduld.“
„Seien Sie still! Ziehen Sie sich an! Wir treffen uns unten.“
Ihr Ton gestattete keine Widerrede. Er machte gar nicht erst den Versuch, sich zu wehren, und erhob sich. Sie schlüpfte auf den umlaufenden Balkon hinaus und stieg, immer noch gefolgt von der kleinen Belle – so klein, daß sie nicht einmal über das Geländer schauen konnte –, die Treppe hinunter. Ihre Schuhe versanken im Dreck, während sie reglos unter den Pfeilern des Union Hotel stand, auf Mr. Hill wartete und sich einen Plan zurechtlegte. Sie hatte bis jetzt keine Sekunde darüber nachgedacht.
Es war machbar. Andere vor ihr hatten die Landenge zu Fuß überwunden. Als es noch keine Bahnlinie gab, blieb den Reisenden gar nichts anderes übrig … Ja, es war machbar, es war möglich. Es mußte einfach so sein, denn sie würde nicht länger das Risiko eingehen, das Schiff zu verpassen. Sie verließ sich darauf, daß dieses Argument gerade Mr. Hill überzeugen würde, der schließlich den Fehler begangen hatte, nicht gleich mit dem ersten Zug weiterzureisen, obwohl er die Mittel dazu gehabt hätte.
Mit seinen fünfzig Jahren glaubte Mr. Hill an die Vernunft. Er glaubte auch an die Größe der Vereinigten Staaten und die Solidarität seiner Landsleute im Ausland. Was das anging, war Mr. Hill ein Mann des 18. Jahrhunderts und ganz seinen Gefühlen unterworfen. Er war über Panama nach San Francisco unterwegs, um dort Samen und Setzlinge tropischer Pflanzen zu kaufen, die er in seinen Gewächshäusern in Indiana zu züchten gedachte. Diese Leidenschaft für den Gartenbau hatte ihn und Fanny einander nähergebracht. Sie hatte seinen Vorträgen über das Pikieren von Orchideen mit echtem Interesse gelauscht, und die Gärtnerkurse waren bis zum heutigen Abend fortgeführt worden. Ganz nebenbei hatte Fanny erfahren, daß er derselben Freimaurerloge angehörte wie ihr Vater. Ein schwerwiegendes Argument in der zu erwartenden Diskussion.
Sie hoffte nur, daß die unverschämten Preise von Aspinwall Mr. Hill nicht bereits den letzten Cent gekostet hatten und er noch genügend Dollars besaß, um die nötigen Lebensmittel und Maultiere zu kaufen. Sie brauchten genau vier Mulis, um Belle und das Gepäck zu tragen.
„In Panama City können wir sie einfach wieder verkaufen“, flüsterte sie, als er unter dem Balkon des Union Hotel zu ihr gestoßen war. „Es dürfte in drei Tagen zu schaffen sein nach Panama City.“
„Worauf es ankommt, ist, daß wir überhaupt je dort eintreffen“, seufzte er.
„Wenn Sie schweigen können, Mr. Hill, werde ich Sie hinführen.“
Das Erstaunliche war, daß er langsam begann, ihr zu glauben. Sie war nicht einmal halb so alt wie er, hatte nichts vom Leben gesehen und keinerlei Tropenerfahrung. Aber er ließ sich von ihrer unerschütterlichen Haltung überzeugen, von ihrem Sinn fürs Praktische und, der wichtigste Punkt von allen, von ihrer unglaublichen Selbstsicherheit. Mr. Hill begann zu wanken. Sie spürte es genau.
Mit gesenkter Stimme, so daß sie kaum noch zu vernehmen war, fuhr sie fort:
„Kein Wort zu den anderen. Wenn alle Passagiere auf die Idee verfallen, sich zu Fuß auf den Weg zu machen, werden die Eingeborenen ihre Mulis nur noch für pures Gold verkaufen. Also absolutes Stillschweigen, bis ich Mulis für uns aufgetrieben habe. Wie viel Geld besitzen Sie noch?“
„Hundert Dollar.“
„Geben Sie sie mir. Sie kümmern sich darum, Ihre Koffer bis zum Friedhof bringen zu lassen. Ich werde bei Morgengrauen dort sein. Wir brechen sofort auf.“
Es war das erste Mal, daß sie in seiner Gegenwart mehr als fünf zusammenhängende Worte gesprochen hatte. Mr. Hill war erstaunt, wieviel Autorität in ihrer Stimme lag, und war sich dabei gar nicht, aber auch nicht für eine Sekunde, bewußt, wie sehr Fannys Erregung ihn erheiterte und wie sehr ihr Tatendrang, ihr Spaß an der Geheimniskrämerei und der Theatralik sich auf ihn übertrugen. Ihr konspiratives Getue amüsierte ihn königlich.
„In drei Stunden werde ich einen Führer, Lebensmittel und Mulis aufgetrieben haben … Am Friedhof also, Mr. Hill. Und in drei Tagen werden wir in Panama City sein … und in vierzehn“, fügte sie bei sich hinzu, „bei Sam!“
Ihre Tochter dicht auf den Fersen, verschwand sie, an den Wassertümpeln vorbei, in Richtung Ozean.
Weder Fanny noch Belle erzählten je etwas von ihrem Fußmarsch über den Isthmus. Kein Wort wurde über die abenteuerliche Reise mit Mr. Hill verloren. Nicht einmal in ihren Briefen findet sich eine Zeile darüber. Sind die Briefe an die Familie unterwegs verlorengegangen? Oder hat Fanny diese allzu schmerzliche Episode bewußt aus ihrem Gedächtnis gestrichen? Hat einfach geschwiegen über das, was ihr Unbehagen bereitete? Es würde nur zu gut zu ihrem Charakter passen.
Die Schrecken von Aspinwall sollten ihr dagegen bis ins kleinste Detail im Gedächtnis haften. Sie würde die stinkenden Dämpfe der Wasserlöcher ebensowenig vergessen wie ihre Angst, in der Hängematte im Union Hotel am Fieber zu sterben und Belle hilflos ausgerechnet hier zurückzulassen.
Auch die maßlose Furcht, Sam vielleicht nie wiederzusehen, sollte sie noch lange in ihren Alpträumen verfolgen.
Ganz sicher ist sie nicht die gesamte Strecke zu Fuß gegangen. Zwischen Matachin und Panama muß sie einen Zug erwischt haben, denn Belle erwähnt in ihrer Autobiographie bei der Erzählung ihrer Kindheitserinnerungen ein Zugfenster, von dem aus sie „Affen und Papageien; einen geheimnisvollen, brütenden, flüsternden Dschungel“ beobachtete. Aber handelte es sich wirklich um dieselbe Reise? Belle war damals nicht einmal sechs Jahre alt. Im Alter von zehn sollte sie noch einmal durch tropische Gefilde reisen. Auch kein Wort über den Aufenthalt im Hafen von Panama. Nichts über die Reise auf der Moses Taylor, dem aus San Juan kommenden Dampfschiff, das sie schließlich mitnimmt. Und Mr. Hill? Sein Name steht nicht auf der Passagierliste … War er lebend in Panama eingetroffen? Fanny, die meiner Überzeugung nach unfähig zur Gleichgültigkeit war, sollte ein Leben lang vorgeben, nichts davon zu wissen.
Haltung überzeugt auch Skeptiker*innen – vor allem, wenn sie in allen Kontaktpunkten auf dieselbe Art und Weise spürbar ist. Das bedingt Gründlichkeit, Disziplin und Kreativität im Kleinen – auch ein Mouse-Over auf der Website kann zu einer kohärenten Kommunikation beitragen – oder sie eben bröckeln lassen.