„Der Hals der Giraffe“ von Judith Schalansky (2011)

Die immer gleichen Routinen im Arbeitsalltag verleiten gelegentlich dazu, die Gedanken schweifen zu lassen. Im Folgenden bekommen wir einen Einblick in die Welt einer Biologielehrerin aus Vorpommern, die sich während des Unterrichts etwas ablenken lässt. Den Schülern vermittelt sie ihre Kenntnisse zum Thema ausgestorbene Tiere, ihre Gedanken mäandern jedoch parallel mit der für sie typischen strengen Reserviertheit durch die Ereignisse des Schulalltags und Wahrnehmungen aus ihrem Privatleben, zur eigenen Person und Vergänglichkeit.

Lesedauer etwa fünf Minuten

Inge Lohmark trat ans Fenster. In die weiche Vormittagssonne. Wie gut das tat. Die Bäume hatten sich schon zu verfärben begonnen. Das abgebaute Chlorophyll machte die Bühne frei für die leuchtenden Blattpigmente. Carotinoide und Xantophylle. Die langstieligen, von Miniermotten zerfressenen Blätter der Kastanie hatten gelbe Ränder. Dass die Bäume sich so eine Arbeit machten mit Blättern, von denen sie sich ohnehin bald trennten. Genau wie sie als Lehrerin. Jedes Jahr das gleiche Spiel. Seit über dreißig Jahren. Immer wieder von vorn. 
Sie waren zu jung, um die Bedeutung des gemeinsam erworbenen Wissens würdigen zu können. Dankbarkeit war nicht zu erwarten. Hier ging es nur noch um Schadensbegrenzung. Bestenfalls. Schüler waren gedächtnislose Wesen. Sie würden alle eines Tages gehen. Und nur sie allein würde zurückbleiben, mit trockenen Händen vom Kreidestaub. In diesem Zimmer, hier, zwischen der Sammlung zusammengerollter Schautafeln und der Vitrine mit dem Anschauungsmaterial: ein Skelett mit gebrochenen Knochen, speckige Organattrappen mit Platzwunden in der Plastehaut und der ausgestopfte Dachs mit Brandlöchern im Fell, der mit toten Augen durch die Scheiben stierte. Das könnten sie auch bald mit ihr machen. Wie der englische Gelehrte, der seiner Universität über den Tod hinaus verbunden bleiben wollte. Als Mumie an den wöchentlichen Sitzungen teilnehmen. Sein letzter Wunsch wurde ihm erfüllt. Man zog seinem Skelett seine Kleider an. Stopfte sie mit Stroh aus. Balsamierte den Schädel ein. Aber dabei lief irgendwas schief, so dass man schließlich einen Wachskopf auf die Überreste montierte. Sie hatte ihn gesehen, als sie in London war. Claudia hatte da mal studiert. Wie er da hockte, in einem riesigen Holzkasten hinter Glas. Mit Spazierstock, Strohhut und grünen Wildlederhandschuhen, die ganz genauso aussahen wie das Paar, das sie sich im Frühjahr neunzehnhundertsiebenundachtzig im Exquisit gekauft hatte. Für siebenundachtzig Mark. Wladimir Iljitsch schlief wenigstens und konnte vom Kommunismus träumen. Aber dieser Engländer war bis heute im Amt. Täglich beäugte er die Studenten auf ihrem Weg in die Hörsäle. Die Vitrine war sein Grab. Er selbst sein eigenes Denkmal. Ewiges Leben. Besser als Organspenden. 
„Alte Menschen“, fing sie plötzlich an. „Alte Menschen erinnern sich selbst dann noch an die Schulzeit, wenn sie alles andere schon vergessen haben.“ Sie träumte immer wieder von ihrer Schulzeit. Vor allem von der Abiturprüfung. Wie sie dastand und ihr nichts einfiel. Und beim Aufwachen dauerte es immer eine Weile, bis ihr klar wurde, dass sie keine Angst zu haben brauchte. Sie war auf der anderen, der sicheren Seite. 
Sie drehte sich um. Entgeisterte Blicke. 
Man musste höllisch aufpassen. Ehe man sich versah, diskutierte man im Unterricht allerlei Blödsinn. Frühstücksvorlieben. Ursachen der Arbeitslosigkeit. Haustierbeerdigungen. Plötzlich wurden alle putzmunter, und die Stunde war gelaufen. Man musste halsbrecherische Überleitungen bauen, sich zurück zu den Ökosystemen hangeln, wo gerade noch aufgekratzte Kinder sofort wieder leere Gesichter bekamen. Das Wetter war das gefährlichste. Vom Wetter war es nur ein Katzensprung zur persönlichen Befindlichkeit. Aber von ihr sollten sie nichts erfahren. Da half nur, den Faden genau an der Stelle wieder aufzunehmen, wo sie ihn verloren hatte. Betont langsam ging sie zurück zum Lehrerpult. Weg von den bunten Blättern. Vom verhängnisvollen Wetter. Flucht nach vorn.
„Es gibt Fälle, bei denen sich die Alzheimer- und Demenzkranken weder an die Namen ihrer Kinder noch an die ihrer Ehepartner erinnern können, wohl aber an den ihrer Biologielehrerin.“ Schlechte Erfahrungen prägten sich nun einmal besser ein als gute. 
„Eine Geburt oder eine Heirat mag ein wichtiges Ereignis sein, aber es sichert keinen Platz im Gedächtnis. Das Hirn, ein Sieb. 
Merken Sie sich: Nichts ist sicher. Sicher ist nichts.“ 
Jetzt hatte sie sogar angefangen, sich mit dem Zeigefinger an den Kopf zu tippen. 
Die Klasse schaute betroffen. Weiter im Text. 
„Etwa zwei Millionen Arten gibt es auf der Welt. Und wenn sich Umweltbedingungen ändern, dann sind sie gefährdet.“ 
Absolutes Desinteresse. „Kennen Sie Arten, die bereits ausgestorben sind?“ Eine Handvoll gereckter Ärmchen. „Ich meine – außer den Dinosauriern.“ 
Sofort waren die Arme wieder unten. Diese Kinderzimmerpest. Sie konnten eine Amsel nicht von einem Star unterscheiden, aber die Taxonomie ausgestorbener Großreptilien aufsagen. Aus dem Kopf einen Brachiosaurier skizzieren. Frühe Begeisterung für das Morbide. Bald würden sie mit Selbstmordgedanken spielen und nachts auf Friedhöfen herumgeistern. Koketterien mit dem Jenseits. Mehr Todestrend als Todestrieb. 
„Der Auerochse zum Beispiel. Das Urwildpferd, der tasmanische Beutelwolf, der Riesenalk, der Dodo und – die Steller’sche Seekuh!“ 
Sie hatten ja keine Ahnung, 
„Ein riesiges Tier, das im Beringmeer lebte. Mit einem tonnenschweren Körper, einem kleinen Kopf und verkümmerten Gliedmaßen. Die Haut war zentimeterdick und fühlte sich an wie die Rinde alter Eichen. Die Seekuh war ein stilles Tier. Sie gab nie einen Laut von sich. Nur wenn sie verwundet wurde, seufzte sie kurz auf. Sie war von Natur aus zahm und kam immer gern ans Ufer, so dass man sie leicht streicheln konnte. Aber eben auch töten.“ 
„Woher wissen Sie das so genau?“ Erika, einfach so, ohne sich zu melden. 
Die Frage war berechtigt. „Von Georg Steller, einem deutschen Naturforscher. Es war einer der letzten, der sie lebendig sah.“ 
Erika nickte ernst. Sie hatte verstanden. Was ihre Eltern wohl machten? Früher hätte ein Blick ins Klassenbuch genügt. Intelligenzia, Angestellte, Arbeiter, Bauern. Offiziere zu den Arbeitern. Pastoren zur Intelligenzia. 
Ellen meldete sich.
„Ja?“ 
„Was haben die mit ihr gemacht?“ Klar, die witterte eine Leidensgenossin. 
„Gegessen. Soll wie Rindfleisch geschmeckt haben.“
Kuh blieb Kuh. 

Routine hilft, Bekanntes schnell und effizient abzuarbeiten. Routine verhindert, Neues als solches zu erkennen und kreativ anzugehen. Die gute alte Gemengelage also.
Routineaufgaben kann man in vorgegebenen Zeitfenstern abarbeiten; gute Einfälle halten sich weniger an Kalendereinträge. Befriedigend sind beide Arten von Arbeit, sofern die Mischung stimmt – ein nicht unerheblicher Teil der Jobzufriedenheit.