„Alles Sense“ von Terry Pratchett (1991)

Nicht nur in unserer Gesellschaft herrscht Uneinigkeit oder Unsicherheit hinsichtlich dessen, was nach dem Tod mit einem geschieht. Auch die Lebewesen der Scheibenwelt machen sich hierüber so ihre Gedanken. Und dabei ist es gleich, ob ihr Leben so kurz ist wie bei Eintagsfliegen oder deutlich länger dauern kann – wie zum Beispiel bei Bäumen.

Lesedauer etwa sechs Minuten

Die Sonne stand dicht über dem Horizont. Die kurzlebigsten Geschöpfe auf der Scheibenwelt waren Eintagsfliegen: Ihre Existenz dauerte kaum vierundzwanzig Stunden. Zwei der ältesten Exemplare flogen im ziellosen Zickzack über einem Forellenbach und sprachen mit einigen jungen Fliegen aus der Abendbrut. 
„Heute ist die Sonne nicht mehr so wie damals“, klagte einer der beiden Alten. 
„Das stimmt. In den guten alten Stunden gab’s eine richtige Sonne. War ganz gelb und nicht so rot wie jetzt.“ 
„Und sie stand höher am Himmel.“ 
„Läßt sich nicht leugnen.“ 
„Und Nymphen und Larven zeigten einem mehr Respekt.“ 
„Und ob, und ob“, bestätigte die andere alte Eintagsfliege. 
„Wenn sich die jungen Burschen anständig benehmen würden, hätten wir bestimmt eine bessere Sonne.“ 
Die jungen Eintagsfliegen hörten geduldig zu. 
„In meiner Jugend erstreckten sich hier überall Felder, so weit das Auge reichte“, ließ sich eine andere alte Eintagsfliege vernehmen. 
Die jüngeren blickten sich um.„Die Felder existieren noch immer“, erklang es nach einer höflichen Pause. 
„Aber früher waren sie besser“, betonte die alte Fliege scharf. 
„Ja“, summte die zweite Alte. „Und ich erinnere mich an eine Kuh.“ 
„ Stimmt! Stimmt! Ich erinnere mich ebenfalls an sie. Sie fraß dort drüben Gras, und zwar, äh, vierzig Minuten lang. War braun.“ 
„Solche Kühe gibt es in den jetzigen Stunden nicht mehr.“ 
„Es gibt überhaupt keine mehr.“ 
„Was sind Kühe?“ fragte eine der jungen Eintagsfliegen. 
„Ich wußte es!“ triumphierte die älteste Fliege. 
„Die modernen Ephemeriden haben von nichts eine Ahnung.“ Sie zögerte. „Womit haben wir uns vor unserem Gespräch über die Sonne beschäftigt?“ 
„Wir sind ziellos und im Zickzack überm Wasser herumgeflogen“, erwiderte eins der jungen Exemplare. Diese Antwort war praktisch immer richtig. 
„Und davor? 
„Äh … Du hast uns von der Großen Forelle erzählt.“ 
„Ja. Ja, genau. Die Forelle. Nun, wenn man eine gute Eintagsfliege gewesen ist und immer auf die richtige Weise im Zickzack überm Bach flog …“ 
„… und wenn man außerdem immer Respekt vor älteren hatte …“ 
„Ja, und wenn man außerdem immer Respekt vor älteren hatte, dann kommt die Große Forelle und …“ 
Plitsch. Platsch. 
„Ja?“ fragte eine der jungen Eintagsfliegen. Keine Antwort. 
„Dann kommt die Große Forelle und was?“ ertönte die nervöse Stimme einer anderen Fliege. 
Sie blickten aufs Wasser hinab und sahen mehrere sich ausdehnende konzentrische Kreise. 
„Das heilige Zeichen!“ entfuhr es einer Eintagsfliege. „Man hat mir davon erzählt! Ein Großer Kreis im Wasser! Es ist das Zeichen der Großen Forelle!“ 
Die älteste der jungen Eintagsfliegen starrte nachdenklich auf den Bach hinab: Als Senior hatte sie das Recht, besonders dicht an der Wasseroberfläche zu fliegen. 
„Wenn man von der Großen Forelle geholt wird …“, begann jene Eintagsfliege, die über allen anderen im Zickzack flog. „Es heißt, sie bringt einen in ein Land, wo … wo …“ Eintagsfliegen können mit Milch und Honig nichts anfangen, und deshalb fügte sie unsicher hinzu: „Wo Wasser fließt.“ 
„Glaubst du?“ fragte die älteste Fliege. 
„Dort muß es herrlich sein“, sagte die jüngste. 
„Ach? Warum denn?“ 
„Es kehrt nie jemand zurück.“ 

Die ältesten Lebewesen der Scheibenwelt sind die berühmten Zählenden Kiefern, die an der Schneegrenze in den Spitzhornbergen wachsen. 
Sie bieten eins der wenigen bekannten Beispiele für geliehene Evolution. 
Die meisten Spezies beschreiten einen eigenen Evolutionspfad und improvisieren unterwegs, womit sie dem Gebot der Natur gerecht werden. So etwas mag mit geheimnisvollen kosmischen Zyklen in Einklang stehen, die der Meinung sind, jahrmillionenlanges Probierverfahren sei bestens geeignet, um moralische Festigkeit und in einigen Fällen sogar Rückgrat zu verleihen. 
Wenn man die Sache aus dem Blickwinkel der Spezies betrachtet, gibt es nichts dagegen einzuwenden. Doch ganz anders sieht die Sache aus, sobald man sich die Perspektive der betreffenden Individuen zu eigen macht. Dann kann einem diese ganze Evolutionsgeschichte schon bald zum Halse heraushängen. Oder aus den Wurzeln … 
Aus diesem Grund überließen die Zählenden Kiefern ihre Entwicklung anderen Pflanzen. Wenn ein entsprechender Same irgendwo auf der Scheibenwelt auf den Boden fällt, so verwendet er das Mittel der morphischen Resonanz, um den besten genetischen Code in der Nähe zu finden, und anschließend wächst er zu etwas heran, das besonders gut an Boden und Klima angepaßt ist – so gut, daß dieses Etwas die einheimischen Arten schon nach kurzer Zeit verdrängt. 
Aber eigentlich sind die Zählenden Kiefern deshalb so bemerkenswert, weil sie … zählen. 
Auf eine eher vage Weise waren sie sich bewußt, daß die Menschen die Ringe eines Baums zählten, um das Alter festzustellen, und daraus zogen sie den Schluß: Aus diesem Grund werden Bäume gefällt. 
Die Zählenden Kiefern nahmen diese Erkenntnis zum Anlaß, sofort den eigenen genetischen Code zu verändern, um in Augenhöhe und gut lesbar ihr exaktes Alter anzugeben. Innerhalb eines Jahres waren sie daraufhin fast ganz ausgestorben, was sie einer Hochkonjunktur in der Industrie für schmuckvolle Hausnummern-Schilder verdankten. Nur in äußerst abgelegenen Regionen gab es einige wenige Überlebende. 
Die sechs Zählenden Kiefern lauschten der ältesten Kiefer weit und breit: Der knorrige Stamm verkündete ein Alter von einunddreißigtausendsiebenhundertvierunddreißig Jahren. Das Gespräch dauerte siebzehn Jahre und wird hier im Zeitraffer wiedergegeben. 
„Ich kann mich noch an die Zeit erinnern, als es hier nicht nur Felder gab.“ 
Die Kiefern blickten über die mehr als anderthalbtausend Kilometer freies Land vor ihnen hinweg. Das Firmament flackerte wie der schlechte Spezialeffekt eines Zeitreisefilms. Schnee erschien, verweilte kurz und schien sich einfach in Luft aufzulösen.
„Und was gab es statt dessen?“ fragte die nächste Kiefer. 
„Eis. Wenn diese Bezeichnung angemessen ist. Damals hatten wir richtige Gletscher. Nicht so ein Eis wie heute: plötzlich da und schon wieder weg. Es blieb eine Ewigkeit lang.“ 
„Was ist damit passiert?“ 
„Es verschwand.“ 
„Wohin?“ 
„Was weiß ich? Wohin die Dinge eben verschwinden. Alles hat’s so eilig …“ 
„Potzblitz! Der hatte es in sich.“ 
„Was meinst du?“ „Den letzten Winter. War ziemlich streng.“ 
„So etwas hältst du für einen strengen Winter? Als ich ein junger Baum war – da hatten wir richtige Winter. Aber heute …“ 
Die Kiefer verschwand. 
Nach einer schockierten Pause, die mehrere Jahre dauerte, sagte ein anderer Baum der Gruppe: „An einem Tag war er noch da, und am nächsten nicht mehr! Wie ist so etwas möglich?“ 
Wenn die übrigen Bäume Menschen gewesen wären, hätten sie jetzt mit den Füßen gescharrt. 
„So was kommt vor, Junge“, erwiderte einer von ihnen behutsam. „Bestimmt ist er jetzt an einem besseren Ort. Da kannst du sicher sein. Immerhin war er ein guter Baum.“ 
Der jüngere Baum – er hatte erst fünftausendeinhundertelf Jahre hinter sich – fragte: „Was für ein ‚besserer Ort‛?“ 
„Wir wissen es nicht genau“, entgegnete eine andere Kiefer. Sie zitterte unsicher in einem sieben Tage langen Sturm. „Aber wir glauben, es geht dabei um … Sägemehl.“ 
Die Bäume konnten keine Ereignisse wahrnehmen, die weniger als vierundzwanzig Stunden dauerten, und deshalb hörten sie nie das Hämmern von Äxten. 

Von der alten zur jungen Eintagsfliege: Vorgesetzte erleben die Realität anders. Je höher man in der Hierarchie steigt, desto angenehmer wird sie: Man ist (fast) nur von Menschen umgeben, die alles gut finden, was man sagt, Widerspruch ist selten, und wenn er vorkommt, dann angenehm und schön portioniert verpackt. Kein Wunder, dass das Selbstbewusstsein überdurchschnittlich groß wird.
Die sogenannte „offene Diskussionskultur“ kann eine heikle Angelegenheit sein; es gibt Vorgesetzte, die es als persönlichen Angriff empfinden, wenn man jede einzelne ihrer Ideen nicht mit spontaner, vorbehaltloser und lang dauernder Begeisterung aufnimmt.
Als Faustregel kannst du annehmen: Je größer die Organisation, desto höher der Zeitaufwand, der für interne Politik eingesetzt werden muss.
Die Bücher von Machiavelli und Sunzi sind eine gute Einführung für Anfänger.

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