„Fabian“ von Erich Kästner (1931)

Für die Titelfigur dieses Romans, der um 1920 anzusiedeln ist,  gilt es hier eine Reihe ernüchternder Erkenntnisse zu verkraften. Rückschläge für einen Melancholiker, der lange passiv auf den Sieg des Anstands wartete, sich jedoch infolge einer beglückenden Liebesbeziehung gerade den optimistischeren Perspektiven des Lebens zugewandt hat. Als Werbetexter für einen Zigarettenhersteller geht er voller Elan an die Umsetzung eines Briefings, als ihn das lapidare Kündigungsschreiben jäh aus dem Job kickt. Die Minuten bis zum Verlassen des Gebäudes liefern seinem Pessimismus hinsichtlich des moralischen Verhaltens seiner Mitmenschen neue Nahrung. Aber wie wird er sich nun über Wasser halten?

Lesedauer dreieinhalb Minuten

Am anderen Morgen war Fabian schon eine Viertelstunde vor Bürobeginn an der Arbeit. Er pfiff vor sich hin und überflog die Notizen zu dem Preisausschreiben, das die Direktion von ihm erwartete. Die Fabrik sollte dem Einzelhandel hunderttausend sehr billige Sonderpackungen zugänglich machen. Die Schachteln sollten numeriert sein und Zigaretten sechs verschiedener Sorten ohne jeden Schriftaufdruck enthalten. Die Käuferschaft sollte erraten, wieviel Zigaretten der sechs bekannten Marken der Firma in der Packung enthalten wären. Wer eine billige Schachtel erwarb, mußte, wenn er die Aufgabe lösen und einen der Preise gewinnen wollte, notgedrungen je eine der sechs Spezialpackungen kaufen, die seit langem im Handel waren, also sechs Packungen außer der billigen Sonderschachtel. Wenn sich hunderttausend Interessenten fanden, konnten automatisch sechshunderttausend andere Packungen, insgesamt siebenhunderttausend Schachteln umgesetzt werden. Dazu kam die allgemeine Absatzsteigerung, die einem geschickt propagierten Kundenfang zu folgen pflegt. Fabian begann eine Kalkulation aufzustellen. Da erschien Fischer, rief: „Nanu?“ und blickte dem Kollegen neugierig über die Schulter. „Der Entwurf fürs Preisausschreiben“, sagte Fabian. Fischer zog das graue Lüsterjackett an, das er im Büro trug, und fragte: „Darf ich Ihnen nachher mal meine Zweizeiler zeigen?“ „Gern. Heute habe ich Sinn für Lyrik.“ Da klopfte es. Der Hausbote Schneidereit, ein ältliches, wackliges Faktotum, auch „der Erfinder des Plattfußes“ geheißen, schob sich ins Zimmer. Er legte mürrisch einen großen gelben Brief auf Fabians Schreibtisch und entfernte sich wieder. Der Brief enthielt Fabians Papiere, eine Anweisung an die Hauptkasse und ein kurzes Schreiben mit diesem Inhalt: 
„Sehr geehrter Herr, die Firma sieht sich veranlaßt, Ihnen unter dem heutigen Tage die Kündigung auszusprechen. Das am Monatsende zahlbare Gehalt wird Ihnen schon heute an der Kasse ausgefolgt werden. Wir haben uns erlaubt, aus freien Stücken in der Anlage ein Zeugnis beizufügen, und wollen auch an dieser Stelle gern bekunden, daß Sie für die propagandistische Tätigkeit besonders qualifiziert erscheinen. Die Kündigung ist eine bedauerliche Folge der vom Aufsichtsrat beschlossenen Senkung des Reklamebudgets. Wir danken Ihnen für die dem Unternehmen geleistete Arbeit und wünschen Ihnen für Ihr weiteres Fortkommen das Beste.“
Unterschrift. Aus.
Fabian saß minutenlang, ohne sich zu rühren. Dann stand er auf, zog sich an, steckte den Brief in den Mantel und sagte zu Fischer: „Auf Wiedersehen. Lassen Sie sich’s gut gehen.“ „Wo wollen Sie denn hin?“ „Man hat mir eben gekündigt.“ Fischer sprang auf. Er war grün im Gesicht. „Was Sie nicht sagen! Mensch, da hab ich aber nochmal Glück gehabt!“ „Ihr Gehalt ist kleiner“, meinte Fabian. „Sie dürfen bleiben.“ Fischer trat auf den gekündigten Kollegen zu und drückte ihm mit feuchter Hand sein Bedauern aus. „Na, zum Glück läßt Sie die Sache kalt. Sie sind ein patenter Kerl, und zweitens haben Sie keine Frau auf dem Hals.“ Plötzlich stand Direktor Breitkopf im Zimmer, zögerte, als er sah, daß Fischer nicht allein war, und wünschte schließlich einen Guten Morgen. „Guten Morgen, Herr Direktor“, grüßte Fischer und verbeugte sich zweimal. Fabian tat, als sehe er Breitkopf nicht, wandte sich dem Kollegen zu und sagte: „Auf dem Schreibtisch liegt mein Preisausschreibenprojekt. Ich vermach es Ihnen.“ Damit verließ Fabian seine Wirkungsstätte und holte sich an der Kasse zweihundertsiebzig Mark. Bevor er auf die Straße trat, blieb er minutenlang im Tor stehen. Lastautos ratterten vorbei. Ein Depeschen-Bote sprang vom Rad und eilte ins gegenüberliegende Gebäude. Das Nebenhaus war von einem Gerüst vergittert. Maurer standen auf den Laufbrettern und verputzten den grauen, bröckligen Bewurf. Eine Reihe bunter Möbelwagen bog schwerfällig in die Seitenstraße. Der Depeschenbote kam zurück, stieg hastig auf sein Rad und fuhr weiter. Fabian stand im Torbogen, griff in die Tasche, ob das Geld noch darin sei, und dachte: Was wird mit mir?
Dann ging er, da er nicht arbeiten durfte, spazieren.

Spazierengehen ist im ersten Moment eine sehr gute Wahl. Im zweiten: Fast immer ist es ein externer Grund Budgetkürzung, Einkommensrückgang, Honorarsenkung, Übernahme, Merger. An deinen beruflichen Fähigkeiten liegt es meist nicht. Im dritten Moment, und es hört sich wie eine Binsenwahrheit an: Einen neuen Job findet man in der Regel über sein berufliches und persönliches Netzwerk. Pflege es, es lohnt sich.