Der Ruhm des englischen Automatenbauers und Uhrmachers Cox reicht weit über die Grenzen seines Landes hinaus. Vom Totenbett seines fünfjährigen Töchterchens weg lässt ihn der Kaiser von China (gemäß einem seiner Titel alleiniger Herr über die Zeit) an seinen Hof bringen. Hier, in der verbotenen Stadt, soll er besondere Uhren bauen, die die individuell empfundene Geschwindigkeit des Zeitvergehens messbar machen oder – die Ewigkeit. Weigerungen hätten für Cox und seine drei engsten Mitarbeiter den Tod zur Folge.
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In den nächsten Wochen, nach vielen verworfenen und neu begonnenen Konstruktionszeichnungen und Gesprächen, wurde in der Werkstatt der englischen Gäste mit dem Bau einer weißen, mit zwei Segeln aus gewachster Seide beschlagenen Dschunke begonnen.
Merlin, Lockwood und Bradshaw, alle drei seit Jahren an außerordentliche Entwürfe ihres Meisters gewöhnt, hatten nur genickt, als Cox ihnen seine Pläne unterbreitete. Bis zum Ende des Winters, allerspätestens zum nächsten Frühjahr, sollte dieses in Weißgold, Platin, Sterlingsilber und gebürstetem Stahl ausgeführte Modell einer Dschunke mit Pfahlmasten und Seitenschwertern zu einer Winduhr werden, die den Lauf der Zeit eines Kindes anzeigte: ein von Wellen aus geflochtenem Silberdraht und Blei umspieltes Gefährt, dessen Metallfarben an die Schattierungen des Schnees, des Eises, des Nebels, der Federwolken, Daunen und des unbeschriebenen Papiers oder einfach der Unschuld erinnern sollten. Ein nahezu monochromes Gefährt, mitsamt seiner Takelage nicht größer als ein Kopfkissen und in seiner Bauart ähnlich jenen Lastkähnen, wie Cox sie auf ihrer gemeinsamen Reise auf den Flüssen und Seen Chinas in manchmal nahezu schwebenden Gleitfahrten gesehen hatte.
Auch in Abigails verfliegendem Leben hatte es schließlich nichts gegeben, woran sich ihre Aufmerksamkeit und Begeisterung leichter entzündet hatte als an den von Möwen umschwärmten Seglern auf der Themse.
Sie machen es vor! Sie machen es vor!, hatte Abigail über die Möwenschwärme gejubelt, die ein Schiff kreischend und gierig nach Fischabfällen umkreisten. Abigail, seine Abigail, war überzeugt gewesen, diese Vögel wollten den Bootsleuten beharrlich vorführen, wie das ging: mit im Wind schlagenden Segeln wie auf Flügeln voranzukommen, übers schwarze Wasser zu gleiten, ja, sich zu erheben, zu fliegen.
Und die Ladung dieses Modells sollte aus schimmernden Körben und winzigen Kisten bestehen, funkelnden Paketen, Seemannskoffern und Bündeln. Wurde denn in der Erwartung oder Hoffnung eines Kindes nicht jeder Tag zu einem Tag der Bescherung? Was für ein Reichtum, welche Überraschungen und durch gute oder bedrohliche Märchengestalten und Geister bewirkte Wunder konnten im Lauf eines einzigen solchen Tages und einer einzigen Nacht im Universum eines Kindes erscheinen.
Diese Zeit der Überraschungen und Wunder und guter, böser oder unheimlicher Entdeckungen sollte nun durch die Ladung eines Schiffsmodells in allen Schattierungen von Weiß und Silber dargestellt werden. Denn die Frachtpakete, Fässer und Kisten würden sich in der Abfolge sowohl der abendländischen wie der chinesischen Zeitrechnung, deren Stunden in unterschiedlichen Sommer- und Winterlängen vergingen, durch Türchen und Deckel an filigranen Angeln und Federn öffnen und für einen Augenblick die Sensationen des Stundenlaufs offenbaren: winzige, inmitten aller Monochromie vielfarbige Skulpturen aus lackierten Hölzern, farbstarken Edelsteinen, Leder oder Reispapiermaché – Pfaue, Drachen und Trolle, rotierende Tänzerinnen und Krieger, Dämonen, Faune und Engel, allesamt durch eine komplexe Mechanik miteinander verbunden und allein vom Rhythmus des Windes, der Zugluft oder einfach des Atems betrieben.
Denn als einzige Energiequelle, die das unter Deck verborgene Räderwerk in Bewegung versetzen, Pakete, Körbe und Fässer öffnen und wieder schließen sollte, würden die beiden seidenen Segel dienen, eine Takelung, die schon den sanftesten Luftzug und die leichteste Brise in ihrer gewachsten Segelfläche fangen, in Bewegungsenergie verwandeln und über eine Welle auf das Uhrwerk der Dschunke übertragen konnte. Regte sich kein Hauch und blies kein Bewunderer dieses Automaten seine Backen auf, um die Segel zu füllen, stand das Werk, ja, stand die Zeit still.
Der unberechenbare Wechsel von Stillstand und einem gemächlichen oder auch rasenden Lauf sollte allein vom Spiel der Luftströme und Windwirbel verursacht werden und sich in seinen Tempovarianten und Stärken dem kindlichen Zeitlauf nachbewegen:
Wie schnell verrann doch diese Zeit, wenn von einem heimkehrenden Vater eine Bestrafung zu erwarten war und die Stunden, bis der Vater in der Tür erschien, verflogen. (Cox erinnerte sich immer noch mit Verwunderung daran, daß der Kaiser selbst es gewesen war, der dieses Beispiel erwähnt hatte. Von wem sollte dieser Allmächtige je bestraft worden sein? Selbst sein eigener Vater hätte schließlich im Glauben an die zeitlose Gültigkeit der Gesetze der Dynastie nicht gewagt, seine Hand gegen einen Thronfolger zu erheben.) Wie langsam, bis zum Stillstand langsam, kroch die Zeit während einer Schulstunde dahin und wie schnell, wie der Fall eines geworfenen Kiesels, war die Minute vergangen, in der eine Süßigkeit auf der Zunge zerschmolz …
Diese und ähnliche Vergleiche waren alles, was Cox seinen Gefährten zur Idee einer Winduhr sagte, bevor er sich abwandte und durch das Fenster wieder in den leeren Hof hinausblickte, der ohne Spuren war.
Merlin lächelte: Ein mit dem Chaos verknüpftes Uhrwerk als Kinderspielzeug …, das war der Meister, wie er ihn aus England kannte. Das war Cox. Und das war, wie fast jeder der Automaten, die Cox in der Vergangenheit erdacht hatte, auch ein bißchen verrückt, schließlich mußte diese Kostbarkeit entweder unter freiem Himmel stehen, wo der Wind sie mit seinen Brisen oder Böen erreichte, oder im Kreis von Dienern und Sklaven, die mit ihrem Atem die Segel der Dschunke blähten und so auch daran erinnerten, daß einem Kind das Leben nicht bloß geschenkt, sondern bewahrt werden mußte.
„I love deadlines. I love the whooshing noise they make as they go by“, sagte Douglas Adams, der Finder der Antwort auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest. Seine Empfindung wird leider von vielen Leuten nicht geteilt, insbesondere nicht vom Kunden. Texte können, im Gegensatz zu Bildern, konkrete Aussagen beinhalten und damit rechtlich bindend sein. Die Rechtsabteilung sieht in einem Text eine geladene Waffe mit großem Schadenspotenzial. Wenn in deinem Text herumgefummelt wird, sprich, wenn immer möglich, direkt mit den Jurist:innen – sie erhalten den Text häufig ohne Kontext und nehmen dann, das liegt in ihrer Natur und in ihrer Aufgabe, das Schlimmste an. Erstaunlicherweise findet der Kontakt dann in der Regel noch drei Tage für dich.