Wo wären wir ohne menschliche Leidenschaft? Ohne eine Idee, ein Ziel, etwas, was man unbedingt herausfinden möchte? Der junge Schotte Mungo Park beispielsweise hatte sich im 18. Jahrhundert in den Kopf gesetzt, den genauen Verlauf des Nigers zu erforschen. Und es gelang ihm als erstem Weißen tatsächlich. Dass er bei der Verfolgung dieses Ziels nicht nur interessante Entdeckungen und Bekanntschaften machte, sondern auch mit anderen Sitten konfrontiert wurde und völlig neue Erfahrungen sammelte, kann man sich vorstellen.
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Während die meisten jungen Schotten seines Alters Röcke lüpften, Furchen pflügten und die Saat aussäten, stellte Mungo Park dem Emir von Ludamar, Al-Iladsch’Ali Ibn Fatoudi, seine bloßen Hinterbacken zur Schau. Man schrieb das Jahr 1795. Georg III. beschmierte in Schloß Windsor mit seiner Spucke die Wände, in Frankreich verpatzte das Directoire so ziemlich alles. Goya war taub, Thomas De Quincey ein verdorbener präpubertärer Bursche. George Bryan „Beau“ Brummell strich gerade seinen ersten gestärkten Kragen zurecht, der junge Ludwig van Beethoven, ein Vierundzwanzigjähriger mit buschigen Augenbrauen, machte in Wien mit seinem Zweiten Klavierkonzert Furore, und Ned Rise saß mit Nan Punt und Sally Sebum vor einer Flasche Wacholderfluch in der „Sauf & Syph-Taverne“ auf Maiden Lane.
Ali war Maure. Er saß mit gekreuzten Beinen auf einem Damastkissen und begutachtete den blassen, pickligen Glutaeus maximus mit der Miene eines Gourmets, der soeben eine Fliege in seiner Vichyssoise Glacée entdeckt hat. Mit sandiger Stimme befahl er: „Umdrehen!“ Mungo war Schotte. Er hockte auf einer Bastmatte, die Hosen bis zu den Knien hinuntergezogen, und warf über die Schulter einen Blick auf Ali. Er war auf der Suche nach dem Niger. „Umdrehen!“ sagte Ali noch einmal
Zwar war der Entdeckungsreisende von freundlichem und entgegenkommendem Naturell, doch wiesen seine Kenntnisse des Arabischen gewisse Lücken auf. Als er auch beim zweitenmal keine Reaktion zeigte, trat Dassoud vor – Alis Scherge und menschlicher Schakal –, in der Hand eine Peitsche aus einem halben Dutzend Caudalfortsätzen des Weißschwanzgnus. Die buschigen Schweife durchschnitten die Luft mit einem hohen Ton wie Engelsflügel. Außerhalb von Alis Zelt betrug die Temperatur 53°C. Das Zelt war aus Garn gewebt, das aus Ziegenhaar gesponnen war. Im Innern herrschten 45°. Die Peitsche sauste herab. Mungo drehte sich um.
Auch hier war er weiß – weiß wie ein Bettlaken, weiß wie ein Schneesturm. Ali und seine Entourage staunten wie beim erstenmal. „Sicher hat ihn seine Mutter in Milch getaucht“, sagte jemand. „Zählt seine Finger und Zehen!“ rief ein anderer. Frauen und Kinder drängten sich im Zelteingang, Ziegen meckerten, Kamele bellten und paarten sich, irgendjemand bot Feigen feil. Hunderte von Stimmen vermengten sich wie ein Gewirr aus Trampelpfaden, Feldwegen, Schotterstraßen und Alleen – welche Richtung nehmen? –, und alle sprachen arabisch, rätselhaft, schnell, abgehackt, die Sprache des Propheten. „La-la-la-la-la!“ kreischte eine Frau. Andere nahmen den Ruf auf, in markerschütterndem Falsett. „La-la-la-la la!“ Mungos Penis, ebenfalls weiß, schrumpelte und zog sich ins Körperinnere zurück.
Jenseits der kahlen Zeltwand befand sich das Lager von Benaum, Alis Winterresidenz. Dreihundert sengende und blasige Meilen dahinter lag das Nordufer des Niger, jenes Flusses, den noch niemals das Auge eines Europäers erblickt hatte. Nicht daß die Europäer am Niger kein Interesse gehabt hatten. Sein Verlauf gab Herodot schon fünf Jahrhunderte vor Christi Geburt Stoff zum Grübeln. Groß, so schlußfolgerte er. Aber doch bloß Nebenfluß des Nil. Der arabische Geograph Idrisi bevölkerte seine Ufer mit seltsamen mythischen Kreaturen – da gab es den wurmförmigen Bundfüßler, der eher kroch denn lief und sich der Sprache der Schlangen bediente; die Sphinx und die Harpyie; den Manticor mit Löwenkörper, Skorpionstachel und einer unangenehmen Vorliebe für Menschenfleisch. Plinius der Ältere malte den Niger in goldenen Farben und taufte ihn auf einen schwarzen Namen, und die Späher Alexanders des Großen wühlten ihren Feldherrn mit Berichten über den Fluß aller Flüsse auf, wo Edelmänner und Edelfrauen in Lotosgärten saßen und aus Bechern von gehämmertem Gold tranken. Und nun, am Ende des Zeitalters der Aufklärung und zu Beginn jenes der Profitmaximierung, wollte Frankreich den Niger haben, England wollte ihn, und Holland, Portugal und Dänemark wollten ihn auch. Nach den aktuellsten und zuverlässigsten Angaben – zu finden in der Geographia des Ptolemäus – verlief der Niger zwischen Nigritia, dem Land der Schwarzen, und der Großen Wüste. Wie sich herausstellen sollte, lag Ptolemäus genau richtig. Nur hatte es noch niemand geschafft, den sengenden Samum der Sahara oder den stinkenden Fiebergürtel des Gambia zu überleben, um ihm recht geben zu können.
Doch dann, im Jahre 1788, fand sich eine Gruppe von berühmten Geographen, Botanikern, Kamasutrikern und sonstigen Strebern nach Wahrheit in der Taverne „St. Alban’s“ auf der Pall Mall ein, um die Afrika-Gesellschaft zu gründen. Das Ziel dieser Vereinigung war es, Afrika der Erforschung zu öffnen. Nordafrika bot hier kein Problem. Bereits 1790 hatten sie es abgesteckt, kartographiert, etikettiert, seziert und verteilt. Westafrika jedoch blieb weiterhin ein Geheimnis, und in seinem geheimnisvollsten Inneren floß der Niger. Im Gründungsjahr setzte die Gesellschaft eine Expedition unter Führung von John Ledyard in Marsch. Er sollte in Ägypten anfangen, die Sahara durchqueren und dann den Niger entdecken. Ledyard war Amerikaner. Er spielte Geige und schielte stark. Vorher hatte er mit James Cook den Pazifik überquert, er hatte die Anden erwandert, er war zu Fuß durch Sibirien bis Jakutsk gekommen. Ich habe die ganze Welt unter den Füßen gehabt, sagte er, die Furcht verlacht und Gefahren verhöhnt. Horden von Wilden, glühendheiße Wüsten, den eiskalten Norden, das ewige Eis und die tobende See habe ich unbeschadet überstanden. So gut ist mein Gott zu mir! Zwei Wochen nach der Landung in Kairo starb er an Amöbenruhr. Simon Lucas, Dolmetscher für orientalische Sprachen am königlichen Hof von St. James’s, war der nächste. Er ging in Tripolis an Land, marschierte hundert Meilen weit in die Wüste und litt bald unter Blasen an den Füßen, Durst und Angstneurosen, so daß er wieder heimkehrte, ohne mehr zuwege gebracht zu haben als Spesen in Höhe von 1.250 Pfund Sterling. Und dann war da noch Major Daniel Houghton. Er war Ire, zweiundfünfzig Jahre alt und bankrott. Von Afrika wußte er überhaupt nichts, aber er war billig zu haben. Ich mach’s für dreihunnert Funt, sagte er. Und dazu ’ne Kiste schottischen Whisky. Houghton besorgte sich einen Einbaum und paddelte den Gambia stromaufwärts. Er trank aus fauligen Teichen und fraß Affenfleisch, und dank seiner eisernen Konstitution und dem pausenlosen Rauschzustand überlebte er Typhus, Malaria, Loa-Loa, Lepra und Gelbfieber. Leider fiel er den Mauren von Ludamar in die Hände, die ihn nackt auszogen und auf dem obersten Kamm einer Düne anpflockten. Wo er dann starb.
Mungo stand auf, um sich die Hosen hochzuziehen. Dassoud schlug ihn nieder. Das Geheul der Frauen entflammte die Menge bis zur Ekstase. „Friß Schwein, du Christ!“ riefen sie. „Friß Schwein!“
Ihre Einstellung gefiel Mungo gar nicht. Außerdem schätzte er es nicht, seinen Hintern vor gemischtem Publikum zu entblößen. Aber dagegen war nichts zu machen: beim leisesten Widerstand hätten sie ihm die Kehle durchgeschnitten und seine Knochen zum Bleichen ausgelegt.
Plötzlich hielt Dassoud einen Dolch in der Hand: schmal wie ein Eispickel, dunkel wie Blut. „Ungläubiger Hund!“ kreischte er, und sein Hals stellte ein Venenrelief zur Schau. Ali hüllte sich in seine Burnusfalten und sah zu, düster und unbewegt. Die Temperatur im Zelt kletterte auf 50°C. Die Menge hielt den Atem an. Dann richtete Dassoud die Klinge auf den Entdeckungsreisenden, während er drauflos schnatterte wie ein tollwütiger Anatom, der über Abartigkeiten der menschlichen Körperform referiert. Die Dolchspitze kam näher. Ali spuckte in den Sand. Dassoud peitschte die Menge weiter auf, Mungo erstarrte. Dann piekte ihn die Spitze – sehr sachte zu nächst – ganz unten, wo er am weichsten war, und am weißesten. Dassoud gluckste wie ein eingetrockneter Bach. Die Menge johlte und pfiff. In diesem Moment brach plötzlich ein ergrauter bushrin, der Stroh im Bart und eine leere Augenhöhle hatte, durch das Gedränge und stieß Dassoud beiseite. „Die Augen!“ kreischte er. „Seht euch doch die Augen dieses Teufels an!“
Dassoud sah sie sich an. Das sadistische Grinsen wich einem erschrockenen, empörten Blick. „Die Augen einer Katze“, zischte er. „Wir müssen sie auslöschen.“
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1 Gedanke zu „„Wassermusik“ von Tom Coraghessan Boyle (1980)“
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