„Paradies der Ungeheuer“ von Daniel Pennac (1985)

Der junge Mann, der sich in diesem Krimi für eine Tätigkeit in der Reklamationsabteilung eines Kaufhauses in Paris entschieden hat, hält diesen Job wahrscheinlich nur aus, weil seine Kreativität auch im Privatleben permanent gefragt ist. Schließlich trägt er in Abwesenheit der Mutter die Verantwortung für seine zahlreichen Geschwister und einen Hund. Und er hat einen Hang zum Detektivischen. Wenn dann noch eine reizvolle Frau und gewaltige Detonationen im Kaufhaus dazukommen, scheint „Sündenbock“ eine vergleichsweise leichte Aufgabe zu sein.

Lesedauer sieben Minuten

Monsieur Malaussène bitte zur Reklamation.“ Er hat es gehört, verdammt nochmal, der Monsieur Malaussène! Er steht sogar schon am Fuße der zentralen Rolltreppe. Und hätte sie auch bereits betreten, wenn nicht die schwarze Mündung eines Geschützrohrs ihn in Schach hielte. Denn er hat mich im Visier, dieser Dreckskerl, Irrtum ausgeschlossen. Der Panzerturm hatte sich um seine Achse gedreht, bis er in meine Richtung zielte, dann hatte das Geschützrohr sich gehoben und war schließlich, auf den Punkt zwischen meinen Augen gerichtet, erstarrt. Turm und Rohr gehören zu einem AMX 30, den ein kleiner, vor Begeisterung glucksender Greis fernsteuert. Einer von Théos zahllosen kleinen Alten, der wirklich sehr klein ist, einen Meter vierzig, und alt wie Methusalem. Stets erkennbar an dem grauen Kittel, in den Théo sie alle steckt, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. „Zum letzten Mal, Opa, legen Sie das Spielzeug an seinen Platz zurück!“ Die Spielwarenverkäuferin war es sichtlich leid, ihn zu schelten. Sie hat den hübschen Kopf eines Eichhörnchens, das seinen Nussvorrat noch in den Backen verwahrt. Der Alte bockt mit kindlichem Starrsinn, behält den Finger auf dem Auslöser. Ich knalle die Hacken zu einer tadellosen Habachtstellung zusammen und sage: „Der AMX 30 ist veraltet, mon Colonel, taugt nur noch für den Schrottplatz oder Südamerika.“ Mit untröstlichem Blick betrachtet der kleine Tattergreis sein Spielzeug, dann gibt er mir mit resignierter Geste zu verstehen, dass er die Waffen streckt. Das Lächeln der Verkäuferin diplomiert mich als Gerontologen. Wie aus dem Nichts taucht Cazeneuve, der Etagensheriff, auf und schnappt sich wütend den Panzer. „Dass du aber auch überall Chaos veranstalten musst, Malaussène!“ 
„Schnauze, Cazeneuve.“ Ein Klima … Jetzt, da ihm sein Panzer fehlt, hält der Alte Maulaffen feil. Ich lasse mich mit einer gewissen Erleichterung von der Rolltreppe nach oben tragen, als hoffte ich auf frischere Luft in größerer Höhe. Oben angekommen stoße ich auf Théo. In Flamingorosa. Der Anzug sitzt wie angegossen. Wie üblich wartet er vor dem Photoautomaten. Er lächelt mir freundlich zu. „Einer deiner Piepmätze stellt in der Spielwarenabteilung alles auf den Kopf, Théo.“ „Bestens. Dann packt er seinen wenigstens nicht vor den Schultoren aus.“ Lächeln und Gegenlächeln. Dann zeigt Théo aus dem Augenwinkel auf den Glaskasten der Reklamation. „Sieht ganz so aus, als ginge es da drin um dich.“ Eindeutig. Ich brauche keine zwei Sekunden, um zu begreifen, dass Lehmann sich seit geraumer Weile abrackert. Er erklärt einer Kundin, dass der Fehler einzig und ausschließlich bei mir liege. In kurzen, kleinen Stößen schießen der Dame Tränen aus den Augen. In einer Ecke hat sie ein fettes Baby abgestellt, das mit Gewalt in einen klapprigen Kinderwagen gequetscht wurde. Ich öffne die Tür. Ich höre, wie Lehmann ehrlich und unverhohlen Solidarität bekundet: „Ich gebe Ihnen vollkommen Recht, Madame, das ist absolut inakzeptabel, im Übrigen …“ Er hat mich gesehen. 
„Im Übrigen – da ist er gerade, fragen wir ihn, was er dazu meint.“ Seine Stimme hat das Register gewechselt. Von Anteilnahme zu Giftigkeit. Die Sache ist einfach. Lehmann legt sie mir mit der Ruhe eines Hypnotiseurs dar. Das fette Baby sieht mich heiter wie ein Leichenbitter an. Also, vor drei Tagen habe meine Abteilung doch dieser Dame hier einen Kühlschrank verkauft, in den sie, dank des Fassungsvermögens, das Weihnachtsessen für fünfundzwanzig Personen, Vor- und Nachspeise inbegriffen, kaltgestellt hat. „Kaltgestellt“ sei freilich ein Euphemismus, denn erstens habe in der vergangenen Nacht aus einem Grunde, den ich ihm bitte erklären möge, sich selbiger Kühlschrank in einen Verbrennungsofen verwandelt, weshalb es zweitens ein Wunder sei, dass nicht jetzt die Frau im Kühlfach liege, denn die Flamme, die ihr heute Morgen beim Öffnen der Tür entgegengeschlagen sei, hätte sie gut und gern das Leben kosten können. Ich werfe einen kurzen Blick auf die Kundin. Ihre Augenbrauen sind wahrhaftig angesengt. Der Schmerz, der durch ihre Wut hindurch schimmert, hilft mir, kläglich aus der Wäsche zu gucken. Das Baby betrachtet mich, als wäre ich die Ursache allen Übels. Ängstlich wandert mein Blick zu Lehmann, der sich mit verschränkten Armen auf die Kante seines Schreibtischs stützt. „Ich warte.“ Stille. „Sie sind doch die Technische Kontrolle, oder?“ Ich nicke und stottere, dass, ja, eben drum, mir unbegreiflich, die Kontrolltests wurden alle … „Wie bei dem Gasherd vergangene Woche oder dem Staubsauger der Kanzlei Boëry!“ Schuld an den massakrierten Robbenbabys bin ich, das kann ich unmissverständlich in den Augen des kleinen Dotzes lesen. Lehmann wendet sich erneut an die Kundin. Er redet, als ob ich nicht da wäre. Er dankt der Dame, dass sie ohne Zögern und mit Nachdruck ihre Beschwerde vorgebracht habe. (Draußen steht sich Théo noch immer in der Schlange vor dem Photomaton die Beine in den Bauch. Ich darf nicht vergessen, ihn um ein Bild für le Petits Album zu bitten.) Lehmann vertritt die Ansicht, dass es die Pflicht der Kundschaft sei, zur Verbesserung des Handels beizutragen. Selbstredend trete die Garantie in Kraft, das Kaufhaus werde der geschätzten Kundin umgehend einen neuen Kühlschrank liefern. „Was den darüber hinausgehenden Schaden betrifft, den Sie und Ihre Familie erlitten haben (so redet er, der Exunteroffizier Lehmann, in dessen Stimme ein Hauch gutes altes Elsass nachhallt, wo ihn dieser Klapperstorch, der regelmäßig Riesling tankt, abgelegt hat), so wird es Monsieur Malaussène eine Freude sein, diesen wieder gutzumachen. Aus eigener Tasche, versteht sich.“ Und er fügt hinzu: „Fröhliche Weihnachten, Malaussène!“ Nun, da Lehmann ihr meinen Werdegang im Hause nachzeichnet, da er ihr erklärt, dass dieser Werdegang dank ihres entschiedenen Auftretens hiermit abgeschlossen sei, lese ich im müden Blick der Kundin nicht mehr Wut, sondern zunächst Verlegenheit, dann Mitleid, und schließlich steigen ihr erneut Tränen in die Augen und hängen zitternd an ihren Wimpern. So weit wären wir schon mal. Jetzt muss ich nur noch meine eigene Tränenpumpe in Betrieb setzen. Zu diesem Zwecke wende ich die Augen ab und versenke meinen Blick im Mahlstrom des Kaufhauses auf der anderen Seite der Glastür. Ein unbarmherziges Herz pumpt mehr und mehr rote Blutkörperchen in die verstopften Arterien. Die gesamte Menschheit scheint unter einem gigantischen Geschenkpaket einherzukriechen. Aus der Spielzeugabteilung steigen unablässig hübsche durchsichtige Luftballons nach oben und verklumpen sich unter dem milchigen Glasdach. Durch diese vielfarbigen Trauben sickert das Tageslicht herein. Schön ist das. Vergeblich versucht die Kundin, Lehmann zu unterbrechen, der mitleidlos meinen künftigen Lebensweg entwirft. Nicht gerade rosig. Noch zwei, drei miserable Jobs und erneute Entlassungen, schließlich Dauerarbeitslosigkeit, Obdachlosenasyl und am Ende ein anonymes Armenbegräbnis. Als die Kundin ihre Augen wieder auf mich richtet, laufen mir die Tränen herunter. Lehmann hebt nicht die Stimme. Er treibt systematisch den Stachel ins Fleisch. Was ich nun in den Augen der Kundin sehe, überrascht mich nicht. Ich sehe darin sie. Ich brauchte nur loszuheulen, damit sie sich an meine Stelle versetzte. Mitgefühl. Als Lehmann einmal kurz Luft holt, gelingt es ihr endlich, ihn zu unterbrechen. Rückzieher auf der ganzen Linie. Sie wird keine Schadensersatzansprüche erheben. Es genügt, wenn der Kühlschrank auf Garantie geht. Ich brauche ihr das Weihnachtsessen für fünfundzwanzig Personen nicht zu ersetzen. (Bestimmt hat Lehmann zwischendurch mein Gehalt erwähnt.) Sie würde sich Vorwürfe machen, wenn ich ihretwegen direkt vor den Festtagen den Arbeitsplatz verlöre. (Lehmann hat mindestens zwanzigmal das Wort „Weihnachten“ fallengelassen.) Jeder kann mal einen Fehler machen, sie selber hat erst kürzlich auf der Arbeit …  
Fünf Minuten später verlässt sie das Reklamationsbüro mit einem Gutschein für einen neuen Kühlschrank. Der Kinderwagen mitsamt Baby bleibt kurz in der Tür stecken. Die Frau schiebt und drückt und schluchzt nervös auf. Lehmann und ich bleiben allein zurück. Ich schaue ihm eine Zeitlang zu, wie er sich schieflacht. Dann – vielleicht war ich einfach ausgelaugt? – flüstere ich: „Eine hübsche Schweinebande, wir beiden, hm?“

Ist das nicht die Essenz unseres Berufes: Die Emotionen wecken und so das Verhalten des Kunden im Sinn des Auftraggebers beeinflussen? Was betont der Herr Schulleiter immer wieder? „Wir wollen die Menschen nicht nur überzeugen, sondern vor allem für etwas gewinnen.“ Dafür appellieren wir an sie, wir rütteln sie auf, wir aktivieren, provozieren, stimulieren, sensibilisieren sie, wir wirken auf sie ein und regen sie an. Damit die Portemonnaies gezückt werden und das getan wird, was wir wollen.
Ist es wirklich so?