„Radetzkymarsch“ von Joseph Roth (1932)

Der folgende Dialog (wenn man das so nennen möchte) ist in dieser Form heute kaum denkbar. Er gehört in die Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Alte Machtstrukturen lösen sich auf, aber im Haus des jugendlichen Carl Joseph ist das noch nicht angekommen. Hier gelten klar monarchistisch-hierarchische Regeln, denen sich der Junge nur schwer entziehen kann. Am Schluss dieses Auszugs dürfte er aber manche verlässliche Reglements doch schätzen.

Lesedauer gut viereinhalb Minuten

Am Sonntag hatte Herr von Trotta und Sipolje keinen Dienst. Den ganzen Vormittag von neun bis zwölf reservierte er für seinen Sohn. Pünktlich zehn Minuten vor neun, eine Viertelstunde nach der ersten Messe, stand der Junge in der Sonntagsuniform vor der Tür seines Vaters. Fünf Minuten vor neun kam Jacques in der grauen Livree die Treppe herunter und sagte: „Junger Herr, der Herr Papa kommt.“ Carl Joseph zog noch einmal an seinem Rock, rückte das Koppel zurecht, nahm die Mütze in die Hand und stemmte sie, wie es Vorschrift war, gegen die Hüfte. Der Vater kam, der Sohn schlug die Hacken zusammen, es knallte durch das stille, alte Haus. Der Alte öffnete die Tür und ließ mit leichtem Gruß der Hand dem Sohn den Vortritt. Der Junge blieb stehen, er nahm die Einladung nicht zur Kenntnis. Der Vater schritt also durch die Tür, Carl Joseph folgte ihm und blieb an der Schwelle stehen. „Mach dir’s bequem!“ sagte nach einer Weile der Bezirkshauptmann. Jetzt erst trat Carl Joseph an den großen Lehnstuhl aus rotem Plüsch und setzte sich, dem Vater gegenüber, die Knie steif angezogen und die Mütze mit den weißen Handschuhen auf den Knien. Durch die dünnen Ritzen der grünen Jalousien fielen schmale Sonnenstreifen auf den dunkelroten Teppich. Eine Fliege summte, die Wanduhr begann zu schlagen. Nachdem die neun goldenen Schläge verhallt waren, begann der Bezirkshauptmann: „Was macht Herr Oberst Marek?“ „Danke, Papa, es geht ihm gut!“ „In der Geometrie immer noch schwach?“ „Danke, Papa, etwas besser!“ „Bücher gelesen?“ »Jawohl, Papa!“ „Wie steht’s mit dem Reiten? Voriges Jahr war’s nicht sonderlich …“ „In diesem Jahr“, begann Carl Joseph, wurde aber sofort unterbrochen. Sein Vater hatte die schmale Hand ausgestreckt, die halb in der runden, glänzenden Manschette geborgen war. Golden glitzerte der viereckige, mächtige Manschettenknopf. „Es war nicht sonderlich, habe ich eben gesagt. Es war“ – hier machte der Bezirkshauptmann eine Pause und sagte dann mit tonloser Stimme: „eine Schande!“ – Vater und Sohn schwiegen. So lautlos das Wort „Schande“ auch ausgesprochen war, es wehte noch durch den Raum. Carl Joseph wußte, daß nach einer strengen Kritik seines Vaters eine Pause einzuhalten war. Man hatte das Urteil in seiner ganzen Bedeutung aufzunehmen, zu verarbeiten, sich einzuprägen, dem Herzen und dem Gehirn einzuverleiben. Die Uhr tickte, die Fliege summte. Dann begann Carl Joseph – mit heller Stimme: „In diesem Jahr war’s bedeutend besser. Der Wachtmeister selbst hat’s oft gesagt. Ich habe auch vom Herrn Oberleutnant Koppel eine Belobung gekriegt.“ „Es soll mich freuen“, bemerkte mit Grabesstimme der Herr Bezirkshauptmann. Er stieß am Tischrand die Manschette in den Ärmel zurück, es gab ein hartes Scheppern. „Erzähle weiter!“ sagte er und zündete sich eine Zigarette an. Es war das Signal für den Anbruch der Gemütlichkeit. Carl Joseph legte Mütze und Handschuhe auf ein kleines Pult, erhob sich und begann, alle Ereignisse des letzten Jahres vorzutragen. Der Alte nickte. Auf einmal sagte er: „Du bist ja ein großer Bub, mein Sohn! Du mutierst ja! Etwa verliebt?“ Carl Joseph wurde rot. Sein Gesicht brannte wie ein roter Lampion, er hielt es tapfer dem Vater entgegen. „Also noch nicht!“ sagte der Bezirkshauptmann. „Laß dich nicht stören! Erzähl nur weiter!“ Carl Joseph schluckte, die Röte wich, er fror auf einmal. Langsam berichtete er und mit vielen Pausen. Dann zog er den Bücherzettel aus der Tasche und reichte ihn dem Vater. „Recht anständige Lektüre!“ sagte der Bezirkshauptmann. „Bitte die Inhaltsangabe von ,Zriny‘!“ Carl Joseph erzählte das Drama Akt für Akt. Dann setzte er sich, müde, blaß, mit trockener Zunge.
Er warf einen geheimen Blick nach der Uhr, es war erst halb elf. Anderthalb Stunden ging noch die Prüfung. Es konnte dem Alten einfallen, Geschichte des Altertums zu prüfen oder germanische Mythologie. Er ging rauchend durchs Zimmer, die Linke am Rücken. An der Rechten klapperte die Manschette. Immer stärker wurden die Sonnenstreifen auf dem Teppich, immer näher rückten sie zum Fenster. Die Sonne mußte schon hoch stehen. Die Kirchenglocken begannen zu dröhnen, ganz nahe schlugen sie ins Zimmer, als schaukelten sie knapp hinter den dichten Jalousien. Der Alte prüfte heute lediglich Literatur. Er sprach sich ausführlich über die Bedeutung Grillparzers aus und empfahl dem Sohn als „leichte Lektüre“ für Ferientage Adalbert Stifter und Ferdinand von Saar. Dann sprang er wieder auf militärische Themen, Wachdienst, Dienstreglement Zweiter Teil, Zusammensetzung eines Armeekorps, Kriegsstärke der Regimenter. Plötzlich fragte er: „Was ist Subordination?“ „Subordination ist die Pflicht des unbedingten Gehorsams“, deklamierte Carl Joseph, „welchen jeder Untergebene seinem Vorgesetzten und jeder Niedere…“ „Halt!“ unterbrach ihn der Vater und verbesserte: „… sowie auch jeder Niedere dem Höheren“ – und Carl Joseph fuhr fort: „zu leisten schuldig ist, wenn …“ – „sobald“, korrigierte der Alte, „sobald diese die Befehlsgebung ergreifen.“ Carl Joseph atmete auf. Es schlug zwölf.
Jetzt erst begannen die Ferien.

Hierarchien existieren (leider) nach wie vor, sie haben sich einfach umgekleidet. Klassische Symbole wie Krawatten, teure Armbanduhren oder hochhackige Schuhe sind von neuen abgelöst worden: weiße Tennisschuhe, Du-Ansprache, dem unbändigen Wunsch, gemeinsam die Welt retten zu wollen. Offen gelebte Hierarchien haben den Vorteil, dass man auf einen Blick sieht, wer Freund und wer Feind ist. Die flach hierarchisierte Geschäftswelt, in der sich alle furchtbar mögen, macht das schwieriger. Letztlich gilt, was schon die Bibel feststellte: „An ihren Taten sollt Ihr sie erkennen.“ – auch wenn das manchmal enttäuschend ist.

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