Wieviel Loyalität entsteht durch eine Jugendfreundschaft? Im Haushalt einer großbürgerlichen Familie in Kabul wachsen in den 1970er Jahren zwei Jungs auf. Der eine als Sohn des Hausherrn, der andere als Sohn des Hausdieners – beide als einander eng Vertraute. Das Leben jenseits des schützenden Heims stellt sie und ihre Freundschaft immer wieder auf die Probe. Wie zum Beispiel im ausgewählten Ausschnitt. Ein einschneidendes Erlebnis und der Krieg scheinen ihre Bindung zu sprengen. Bis es nach Jahren wieder eine Chance dafür gibt.
Lesedauer achteinhalb Minuten
Flankiert von seinen gehorsamen Freunden, schritt er durch das Viertel wie ein Khan, der mit seinem Gefolge, das darauf bedacht ist, ihm jeden Wunsch zu erfüllen, durchs Land zieht. Sein Wort war Gesetz, und wenn man Nachhilfe in Rechtsfragen benötigte, dann war dieser Schlagring genau das richtige Werkzeug. Ich habe einmal gesehen, wie er diesen Schlagring bei einem Kind aus dem Karteh-Char-Viertel eingesetzt hat. Ich werde nie vergessen, wie Assefs blaue Augen dabei funkelten – als wäre er von Sinnen – und wie er grinste, grinste, während er auf das arme Kind einschlug, bis es das Bewusstsein verlor. Einige Jungen im Wazir-Akbar-Khan-Viertel hatten ihm den Spitznamen Assef Goshkhor, Assef der Ohrenfresser, gegeben. Natürlich traute sich keiner, ihm den Namen ins Gesicht zu sagen, um nicht das gleiche Schicksal erleiden zu müssen wie der arme Junge, der, ohne es zu wollen, zum Urheber dieses Spitznamens wurde, als er sich wegen eines Drachens mit Assef prügelte und am Ende sein rechtes Ohr aus der dreckigen Gosse fischen musste. Jahre später lernte ich in Amerika ein Wort für eine Kreatur wie Assef, ein Wort, für das es kein gutes Äquivalent im Farsi gibt: Soziopath.
Von all den Nachbarjungen, die Ali quälten, war Assef bei weitem der unerbittlichste. Er war auch derjenige, der mit den höhnischen Babalu-Bemerkungen angefangen hatte: He, Babalu, wen hast du denn heute gefressen, häh? Komm schon, Babalu, schenk uns ein Lächeln! Und an Tagen, an denen ihn eine ganz besondere Inspiration überkam, verlieh er seinem Gehetze noch ein wenig mehr Würze: He, du flachnasiger Babalu, wen hast du denn heute gefressen? Sag doch, du schlitzäugiger Esel!
Jetzt kam er auf uns zu, die Hände in die Seiten gestemmt. Seine Turnschuhe wirbelten kleine Staubwolken auf.
„Guten Morgen, kunis!“, rief Assef winkend, „Schwuler“ gehörte auch zu seinen Lieblingsschimpfworten. Hassan zog sich hinter meinen Rücken zurück, als die drei bedrohlich näher kamen. Sie blieben vor uns stehen, drei groß gewachsene, ältere Jungen in Jeans und T-Shirts. Assef, der uns alle überragte, kreuzte mit einem gefährlich aussehenden Grinsen die kräftigen Arme vor der Brust. Nicht zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass Assef möglicherweise verrückt war. Außerdem fiel mir ein, was für ein Glück ich hatte, Baba zum Vater zu haben, denn das war meiner Ansicht nach der einzige Grund, warum es Assef bisher unterlassen hatte, mich allzu sehr zu schikanieren.
Er deutete mit einer ruckartigen Kopfbewegung auf Hassan. „Hallo, Flachnase«, sagte er. „Wie geht es Babalu?“
Hassan erwiderte nichts, trat nur hinter meinem Rücken noch näher an mich heran.
„Habt ihr schon gehört, Jungs?“, fragte Assef, dessen Grinsen nicht für einen Moment aus seinem Gesicht wich. „Der König ist weg. Ein Glück, dass wir den los sind. Lang lebe der Präsident! Mein Vater kennt Daoud Khan, wusstest du das, Amir?“
„Mein Vater kennt ihn auch“, antwortete ich. In Wahrheit hatte ich keine Ahnung, ob das stimmte.
„Mein Vater kennt ihn auch“, äffte mich Assef mit weinerlicher Stimme nach. Kamal und Wali stießen ein meckerndes Lachen aus. Wenn doch nur Baba bei uns wäre!
„Daoud Khan war letztes Jahr zum Abendessen bei uns“, fuhr Assef fort. „Wie gefällt dir das, Amir?“
Ich fragte mich, ob uns irgendjemand auf diesem abgelegenen Fleckchen Erde würde schreien hören. Babas Haus lag einen guten Kilometer weit entfernt. Wären wir doch nur dort geblieben!
„Weißt du, was ich Daoud Khan beim nächsten Mal erzählen werde, wenn er zum Abendessen zu uns kommt?“, sagte Assef. „Ich werde eine kleine Unterhaltung mit ihm führen, von Mann zu Mann, von mard zu mard. Denn ich habe eine Vision, und die werde ich unserem neuen Präsidenten mitteilen. Weißt du, wie sie aussieht?“
Ich schüttelte den Kopf. Er würde es mir sowieso sagen. Assef beantwortete seine Fragen immer selbst.
Seine blauen Augen richteten sich auf Hassan. „Afghanistan ist das Land der Paschtunen. So ist es immer gewesen, und so wird es auch immer sein. Wir sind die wahren Afghanen, nicht diese Flachnase hier. Seine Leute verpesten unser Heimatland, unser watan. Sie verunreinigen unser Blut.“ Er vollführte eine weit ausholende, übertriebene Bewegung mit den Händen. „Afghanistan den Paschtunen, sage ich. Das ist meine Vision.“
Assef wandte den Blick wieder mir zu. Er sah wie jemand aus, der gerade aus einem Traum erwacht war. Er griff nach etwas, das er offenbar in der Gesäßtasche seiner Jeans trug. „Ich werde den Präsidenten bitten, endlich das zu tun, wozu unser König nicht den quwat gehabt hat. Er soll Afghanistan von all den dreckigen, kasseef Hazara befreien. Zu spät für Hitler, aber nicht zu spät für uns,
„Lass uns doch gehen, Assef“, sagte ich und hasste mich dafür, dass meine Stimme zitterte, „wir haben dir doch gar nichts getan.“
„Oh doch, das habt ihr“, meinte Assef. „Und du ganz besonders.“ Und mir wurde bang ums Herz, als ich sah, was er da aus der Tasche hervorgeholt hatte. Natürlich. Sein rostfreier Schlagring funkelte in der Sonne. „Du ärgerst mich nämlich andauernd. Mehr als dieser Hazara hier. Wie kannst du nur mit ihm reden, mit ihm spielen, dich von ihm anfassen lassen?“, sagte er, und seine Stimme bebte vor Empörung. Wali und Kamal nickten und grunzten zustimmend. Assef kniff die Augen zusammen. Schüttelte den Kopf. Als er wieder sprach, klang er so verblüfft, wie er aussah. „Wie kannst du ihn nur als deinen Freund bezeichnen?“
Beinahe wäre ich mit einem Aber er ist doch gar nicht mein Freund! herausgeplatzt. Er ist mein Diener! Hatte ich das wirklich gedacht? Natürlich nicht. Bestimmt nicht. Ich behandelte Hassan gut, wie einen Freund, besser noch sogar, fast wie einen Bruder. Aber wie kam es dann, dass ich, wenn Babas Freunde mit ihren Kindern zu Besuch kamen, Hassan nie an unseren Spielen beteiligte? Warum spielte ich nur dann mit Hassan, wenn niemand sonst da war?
Assef zog den Schlagring über. Warf mir einen eisigen Blick zu. „Du bist Teil des Problems, Amir. Wenn Idioten wie du und dein Vater diese Leute nicht aufnehmen würden, wären wir sie inzwischen los. Sie würden alle im Hazarajat verrotten, wo sie hingehören. Du bist eine Schande für Afghanistan.“
Ich blickte in seine verrückten Augen und begriff, dass er es ernst meinte. Er wollte mir wirklich wehtun. Assef hob die Faust und trat auf mich zu.
Hinter mir entstand plötzlich eine hektische Bewegung. Aus dem Augenwinkel heraus sah ich, wie Hassan sich kurz bückte und dann rasch wieder aufrichtete. Assefs Augen blickten auf etwas hinter mir und weiteten sich vor Überraschung. Ich sah den gleichen erstaunten Ausdruck auf den Gesichtern von Kamal und Wali, als auch sie erkannten, was hinter mir vor sich ging.
Ich drehte mich um und sah mich Hassans Schleuder gegenüber. Hassan hatte das breite Gummiband ganz weit zurückgezogen. In der Vertiefung befand sich ein Stein von der Größe einer Walnuss. Hassan richtete die Schleuder geradewegs auf Assefs Gesicht. Seine Hand, die das Gummiband mit dem Stein darin zurückzog, zitterte vor Anstrengung, und Schweißperlen standen auf seiner Stirn.
„Bitte lass uns in Ruhe, Aga“, sagte Hassan mit ausdrucksloser Stimme. Er redete Assef mit „Aga“ an, und ich fragte mich für einen kurzen Moment, wie es wohl sein musste, mit einem solch tief verwurzelten Sinn für den eigenen Rang in einer Hierarchie zu leben.
Assef biss die Zähne zusammen. „Leg das hin, du mutterloser Hazara.“
„Bitte, geh weg, Aga“, sagte Hassan.
Assef lächelte. „Vielleicht ist es dir noch nicht aufgefallen, aber wir sind zu dritt, und ihr seid nur zu zweit.“
Hassan zuckte mit den Schultern. Auf einen Außenstehenden mochte er furchtlos wirken, aber Hassans Gesicht gehörte zu einer der frühesten Erinnerungen, die ich besaß, und ich kannte all die feinen Nuancen, kannte jedes einzelne Zucken, jeden Anflug einer Regung, der sich darauf zeigte. Und ich sah, dass er Angst hatte. Verdammt große Angst.
„Da magst du Recht haben, Aga. Aber vielleicht ist dir noch nicht aufgefallen, dass ich eine Schleuder in der Hand halte. Wenn du auch nur eine einzige Bewegung machst, werden sie deinen Spitznamen demnächst von Assef der Ohrenfresser in Einäugiger Assef ändern müssen, denn ich habe diesen Stein hier direkt auf dein linkes Auge gerichtet.“ Er sagte dies nach wie vor mit einer so ausdruckslosen Stimme, dass ich mich anstrengen musste, um die Furcht herauszuhören, von der ich wusste, dass sie sich unter dem ruhigen Tonfall verbarg.
Assefs Mund zuckte. Wali und Kamal beobachteten diesen Wortwechsel mit einer gewissen Faszination. Jemand hatte es gewagt, ihren Gott herauszufordern. Ihn zu demütigen. Und, was noch viel schlimmer war, dieser Jemand war ein magerer Hazara. Assef blickte von dem Stein zu Hassan. Er betrachtete Hassans Gesicht eingehend. Was er darin fand, musste ihn von der Ernsthaftigkeit der Absichten Hassans überzeugt haben, denn er senkte die Faust
„Du solltest eins wissen, Hazara“, sagte Assef ernst. „Ich bin ein sehr geduldiger Mensch. Das hier ist noch lange nicht vorbei, glaub mir.“ Er wandte sich an mich. „Und für dich gilt das Gleiche, Amir. Eines Tages werden wir uns allein gegenüberstehen, und dann wird dir keiner helfen.“ Assef wich einen Schritt zurück. Seine Jünger folgten seinem Beispiel.
„Dein Hazara hat heute einen großen Fehler begangen, Amir“, sagte er. Dann drehten sie sich um und schritten davon. Ich sah ihnen nach, wie sie den Hügel hinuntergingen und hinter einer Mauer verschwanden.
Hassan versuchte mit zittrigen Fingern die Schleuder wieder in seinem Hosenbund unterzubringen. Seine Lippen verzogen sich zu etwas, das wohl ein beruhigendes Lächeln sein sollte. Er benötigte fünf Versuche, um das Band seiner Hose zuzubinden. Keiner von uns sprach ein Wort, als wir mit einem beklommenen Gefühl, in dem Bewusstsein, dass uns Assef und seine Freunde hinter jeder Ecke auflauern konnten, nach Hause gingen. Aber sie tauchten nicht wieder auf, und das hätte uns eigentlich beruhigen sollen. Tat es aber nicht. Ganz und gar nicht.
Im geschäftlichen Alltag stellt sich immer wieder die Frage: Lohnt es sich, dafür zu kämpfen, oder lohnt es sich nicht? Auf jeden Fall lohnt sich distanziertes Abwägen des konkreten Anlasses vs. langfristiges Ziel – was nützt es, die Schlacht zu gewinnen, aber den Krieg zu verlieren? Über Satzstellungen und einzelne Wörter zu streiten ist in der Regel keine gute Idee; man/frau zeigt sich als kleinlich und rechthaberisch. Ja, das Dreieck Agentur – Kunde – Käufer ist kein einfaches, nicht zuletzt, weil sowohl der Erste wie auch der Zweite viele, vielleicht richtige, vielleicht falsche Vorstellungen darüber hat, wie der Dritte reagieren wird. Kommunikation ist keine exakte Wissenschaft, glücklicherweise.
1 Gedanke zu „„Drachenläufer“ von Khaled Hosseini (2003)“
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