Wer würde von diesem verträumt wirkenden kleinen Jungen erwarten, dass aus ihm ein erfolgreicher Seefahrer und Polarforscher würde? Ausgerechnet seine Bedächtigkeit, eine der gründlichen Erkundung geschuldete Sorgfalt, die ihn so langsam wirken lässt, erweist sich später als eine große Stärke. Vielleicht ein Anreiz, sich hin und wieder Zeit für etwas Gründlichkeit und Aufmerksamkeit zu gestatten?
Lesedauer etwa sechs Minuten
John Franklin war schon zehn Jahre alt und noch immer so langsam, daß er keinen Ball fangen konnte. Er hielt für die anderen die Schnur. Vom tiefsten Ast des Baums reichte sie herüber bis in seine emporgestreckte Hand. Er hielt sie so gut wie der Baum, er senkte den Arm nicht vor dem Ende des Spiels. Als Schnurhalter war er geeignet wie kein anderes Kind in Spilsby oder sogar in Lincolnshire. Aus dem Fenster des Rathauses sah der Schreiber herüber. Sein Blick schien anerkennend.
Vielleicht war in ganz England keiner, der eine Stunde und länger nur stehen und eine Schnur halten konnte. Er stand so ruhig wie ein Grabkreuz, ragte wie ein Denkmal. „Wie eine Vogelscheuche!“ sagte Tom Barker.
Dem Spiel konnte John nicht folgen, also nicht Schiedsrichter sein. Er sah nicht genau, wann der Ball die Erde berührte. Er wußte nicht, ob es wirklich der Ball war, was gerade einer fing, oder ob der, bei dem er landete, ihn fing oder nur die Hände hinhielt. Er beobachtete Tom Barker. Wie ging denn das Fangen? Wenn Tom den Ball längst nicht mehr hatte, wußte John: das Entscheidende hatte er wieder nicht gesehen. Fangen, das würde nie einer besser können als Tom, der sah alles in einer Sekunde und bewegte sich ganz ohne Stocken, fehlerlos.
Jetzt hatte John eine Schliere im Auge. Blickte er zum Kamin des Hotels, dann saß sie in dessen oberstem Fenster. Stellte er den Blick aufs Fensterkreuz ein, dann rutschte sie herunter auf das Hotelschild. So zuckte sie vor seinem Blick her immer weiter nach unten, folgte aber höhnisch wieder hinauf, wenn er in den Himmel sah.
Morgen würden sie zum Pferdemarkt nach Horncastle fahren, er fing schon an sich zu freuen, er kannte die Fahrt. Wenn die Kutsche aus dem Dorf fuhr, flimmerte erst die Kirchhofsmauer vorbei, dann kamen die Hütten des Armenlandes Ing Ming, davor Frauen ohne Hüte, nur mit Kopftüchern. Die Hunde waren dort mager, bei den Menschen sah man es nicht, die hatten etwas an.
Sherard würde vor der Tür stehen und winken. Später dann das Gehöft mit der rosenbewachsenen Wand und dem Kettenhund, der seine eigene Hütte hinter sich herschleifte. Dann die lange Hecke mit den zwei Enden, dem sanften und dem scharfen. Das sanfte lag von der Straße entfernt, man sah es lang kommen und lang gehen. Das scharfe, dicht am Straßenrand, hackte einmal durchs Bild wie die Schneide einer Axt. Das war das Erstaunliche; in dichter Nähe funkelte und hüpfte es, Zaunpfähle, Blumen, Zweige. Weiter hinten gab es Kühe, Strohdächer und Waldhügel, da hatte das Erscheinen und Verschwinden schon einen feierlichen und beruhigenden Rhythmus. Die fernsten Berge aber waren wie er selbst, sie standen einfach da und schauten.
Auf die Pferde freute er sich weniger, aber auf Menschen, die er kannte, sogar auf den Wirt des Red Lion in Baumber. Dort pflegten sie haltzumachen, Vater wollte zum Wirt an die Theke. Da kam dann etwas Gelbes im hohen Glas, Gift für Vaters Beine, der Wirt reichte es herüber mit seinem schrecklichen Blick. Das Getränk hieß Luther und Calvin. John hatte keine Angst vor finsteren Gesichtern, wenn sie nur so blieben und ihre Mienen nicht auf unerklärliche Weise rasch wechselten.
Jetzt hörte John das Wort „schläft“ sagen und erkannte vor sich Tom Barker. Schlafen? Sein Arm war unverändert, die Schnur gespannt, was konnte Tom auszusetzen haben? Das Spiel ging weiter, John hatte nichts verstanden. Alles war etwas zu schnell, das Spiel, das Sprechen der anderen, das Treiben auf der Straße vor dem Rathaus. Es war auch ein unruhiger Tag. Eben wurlte die Jagdgesellschaft von Lord Willoughby vorbei, rote Röcke, nervöse Pferde, braun gefleckte Hunde mit tanzenden Ruten, ein großes Gebelfer. Was hatte nur der Lord von so viel Wirbel?
Ferner gab es wenigstens fünfzehn Hühner hier auf dem Platz, und Hühner waren nicht angenehm. Sie suchten dem Auge auf plumpe Art Streiche zu spielen. Regungslos standen sie da, kratzten dann, pickten, erstarrten wieder, als hätten sie nie gepickt, täuschten frech vor, sie stünden seit Minuten unverändert. Schaute er aufs Huhn, dann zur Turmuhr, dann wieder aufs Huhn, so stand es starr und warnend wie vordem, hatte aber inzwischen gepickt, gekratzt, mit dem Kopf geruckt, den Hals gewandt, die Augen glotzten anderwärts, alles Täuschung! Auch die verwirrende Anordnung der Augen: was sah denn ein Huhn? Wenn es mit dem einen Auge auf John sah, was nahm das andere wahr? Damit fing es doch schon an! Hühnern fehlte der gesammelte Blick und die zügige, angemessene Bewegung. Schritt man auf sie zu, um sie bei ungetarnten Veränderungen zu ertappen, dann fiel die Maske, es gab Geflatter und Geschrei. Hühner kamen überall vor, wo Häuser standen, es war eine Last.
Eben hatte Sherard ihn angelacht, aber nur kurz. Er mußte sich Mühe geben und ein tüchtiger Fänger sein, er stammte aus Ing Ming und war mit fünf Jahren der Jüngste. „Ich muß aufpassen wie Adler“, pflegte Sherard zu sagen, nicht „wie ein Adler“, sondern „wie Adler“ ohne „ein“, und dabei guckte er ganz ernst und starr wie ein spähendes Tier, um zu zeigen, was er meinte. Sherard Philip Lound war klein, aber John Franklins Freund.
Jetzt nahm sich John die Uhr von St. James vor. Das Zifferblatt war an der Seitenkante des dicken Turms auf den Stein gemalt. Nur einen Zeiger gab es, und der mußte drei mal am Tag vorgerückt werden. John hatte eine Bemerkung gehört, die ihn mit dem eigensinnigen Uhrwerk in Verbindung brachte. Verstanden hatte er sie nicht, aber er fand seitdem. die Uhr habe mit ihm zu tun.
Im Inneren der Kirche stand Peregrin Bertie, der steinerne Ritter, und überschaute die Gemeinde, den Schwertgriff in der Hand seit vielen hundert Jahren. Einer seiner Onkel war Seefahrer gewesen und hatte den nördlichsten Teil der Erde gefunden, so weit weg, daß die Sonne nicht unterging und die Zeit nicht ablief.
Auf den Turm ließen sie John nicht hinauf. Dabei konnte man sich bestimmt an den vier Spitzen und ihren vielen Zacken gut festhalten, während man übers Land sah. Auf dem Friedhof kannte John sich aus. Die erste Zeile auf allen Grabsteinen hieß: „To the memory of“. Er konnte lesen, aber er vertiefte sich lieber in den Geist der einzelnen Buchstaben. Sie waren im Geschriebenen das Dauerhafte, das immer Wiederkehrende, er liebte sie. Die Grabsteine stellten sich tagsüber auf, der eine steiler, der andere schräger, um für ihre Toten etwas Sonne aufzufangen. Nachts legten sie sich flach und sammelten in den Vertiefungen ihrer Inschriften mit großer Geduld den Tau. Grabsteine konnten auch sehen. Sie nahmen Bewegungen wahr, die für menschliche Augen zu allmählich waren: den Tanz der Wolken bei Windstille, das Herumschwenken des Turmschattens von West nach Ost, die Kopfbewegungen der Blumen nach der Sonne hin, sogar den Graswuchs. Im ganzen war die Kirche John Franklins Ort, nur gab es dort außer dem Beten und Singen nicht viel zu tun, und gerade das Singen liebte er nicht.
Mit kritischem und genauem Blick die eigene Arbeit beurteilen ist sehr schwierig; auch mit viel Willen zu Distanz fällt es schwer, das selbst in die Welt Gebrachte zu hinterfragen. Glücklicherweise gibt es das Briefing. Im Zweifelsfall ist es die Richtschnur, ob die Idee das Problem löst oder nicht. Ohne Briefing zu arbeiten und, fast noch schlimmer, ohne Briefing ein Resultat zu beurteilen ist Mumpitz. Stell sicher, dass dein:e CD, dass der/die Kund:in das Briefing gelesen und verstanden hat, bevor er oder sie deinen Text verreißt.