„Der Alte, der Liebesromane las“ von Luis Sepùlveda (1989)

Das Leben im Regenwald Ecuadors ist vielleicht einfach, aber nicht leicht. Da kann es überlebenswichtig sein, sich mit der Natur und der Kultur vertraut zu machen. Der alte Mann, der im folgenden Ausschnitt seine Einschätzung abgibt, hat das offensichtlich gründlich getan, was ihm eine souveräne Haltung erlaubt und das Vertrauen seiner Lebensgemeinschaft sichert.

Lesedauer etwa neuneinhalb Minuten

Der Bürgermeister, einziger Staatsbeamter, höchste Autorität und Stellvertreter einer zu fernen Macht, um Furcht einzuflößen, war ein übergewichtiges Subjekt, das ununterbrochen schwitzte. 
Die Dorfbewohner sagten, seine Schwitzerei habe angefangen, kaum daß er von der „Sucre“ an Land gegangen war, und seitdem hatte er nicht aufgehört, Taschentücher auszuwringen, was ihm den Spitznamen Schleimschnecke eingebracht hatte. 
Man munkelte auch, daß er, bevor er nach El Idilio kam, ein Amt in einer großen Stadt in den Bergen innegehabt hatte und daß man ihn wegen Veruntreuung in diesen gottverlassenen Winkel strafversetzt hatte. 
Er schwitzte, und seine zweite Beschäftigung bestand darin, den Biervorrat zu verwalten. Er saß in seinem Amtszimmer und trank die Flaschen bedächtig aus, in kleinen Schlucken, denn er wußte, daß die Wirklichkeit noch entmutigender aussehen würde, sobald der Vorrat aufgebraucht war. 
Wenn das Glück auf seiner Seite wir, konnte es vorkommen, daß er durch den Besuch eines gut mit Whisky eingedeckten Gringos für die Trockenzeit entschädigt wurde. Der Bürgermeister trank nie Schnaps wie die übrigen Dorfbewohner. Er behauptete, daß er vom Frontera Alpträume bekäme, und lebte in ständiger Angst vor dem Gespenst des Wahnsinns. 
Seit unbestimmter Zeit lebte er mit einer Indianerin zusammen, die er beschuldigte, ihn verhext zu haben, und die er brutal schlug; und alle warteten darauf, daß die Frau ihn umbrachte. Man schloß sogar Wetten darauf ab. 
Seit seiner Ankunft vor sieben Jahren hatte er sich den Hass aller zugezogen. 
Er war mit der fixen Idee angekommen, unsinnige Steuern einzutreiben. Er hegte die Absicht, in einem unregierbaren Gebiet Angel- und Jagdscheine zu verkaufen. Von den Holzsammlern, die in einem Urwald, der älter war als alle Staaten, feuchtes Holz sammelten, wollte er für den Nießbrauch kassieren, und in einem Anfall staatsbürgerlichen Diensteifers ließ er eine Schilfhütte bauen, um darin die Betrunkenen einzusperren, die sich weigerten, ihre Strafen wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses zu begleichen. 
Seine Gegenwart rief verächtliche Blicke hervor, und sein Schweiß düngte den Haß der Dorfbewohner. 
Der vorhergehende Würdenträger hingegen war ein beliebter Mann gewesen. Leben und leben lassen war sein Motto. Ihm hatten sie die Besuche des Schiffes, der Post und des Zahnarztes zu verdanken, aber er blieb nicht lange im Amt. 
Eines Nachmittags war er mit einigen Goldsuchern in Streit geraten, und zwei Tage später fand man ihn, den Kopf von Macheteschlägen gespalten und von den Ameisen schon halb aufgefressen. 
El Idilio blieb ein paar Jahre ohne eine Amtsperson, die die ecuadorianische Landeshoheit dieses grenzenlosen Urwald gehütet hatte, bis die Zentralgewalt schließlich den Gestraften schickte. 
Jeden Montag er war besessen von den Montagen sah man ihn an einem Pfosten des Bootsstegs die Fahne hissen, bis eines Tages ein Unwetter den Fetzen mit sich in den Urwald riß und mit ihm um das Wissen um die Montage, die niemanden kümmerten. 
Der Bürgermeister traf am Landungssteg ein. Er wischte sich mit einem Taschentuch Gesicht und Hals ab. Dann drückte er es aus und befahl, die Leiche an Land zu bringen. 
Es handelte sich um einen jungen Mann, nicht älter als vierzig, blond und von kräftigem Körperbau. 
„Wo habt ihr ihn gefunden?“ 
Die Shuara sahen einander an und zögerten mit der Antwort. 
„Verstehen diese Wilden kein Spanisch?“ knurrte der Bürgermeister. 
Einer der Indianer beschloß zu antworten.
„Flußaufwärts. Zwei Tage von hier.“
„Laßt mich die Wunde sehen», befahl der Bürgermeister. Der zweite Indianer bewegte den Kopf des Toten. Die Insekten hatten sein rechtes Auge aufgefressen, das linke glänzte noch blau. Der Körper wies eine Risswunde auf, die am Kinn begann und bis zur rechten Schulter reichte. Aus der Wunde schauten Arterienstücke und einige weibliche Maden heraus.
„Ihr habt ihn umgebracht.“
Die Shuara wichen zurück. 
„Nein. Shuara nicht töten.“ 
„Lügt nicht. Ihr habt ihn mit einem Machetenschlag erledigt. Das sieht man doch.“
Der schwitzende Dicke zog seinen Revolver und richtete ihn auf die überraschten Indianer. 
„Nein. Shuara nicht töten“, wagte der, der zuvor gesprochen hatte, zu wiederholen. Der Bürgermeister brachte ihn durch einen Schlag mit dem Revolvergriff zum Schweigen. 
Ein dünner Blutfaden rann über die Stirn des Shuara. 
„Mich könnt ihr nicht für dumm verkaufen. Ihr habt ihn umgebracht. Los, vorwärts. Im Bürgermeisteramt werdet ihr mir den Grund verraten. Bewegt euch, ihr Wilden. Und Sie Kapitän, Sie richten sich darauf ein, zwei Gefangene mit dem Schiff mitzunehmen.“ 
Der Kapitän der „Sucre“ antwortete bloß mit einem Schulterzucken. 
„Verzeihen Sie. Da sind Sie auf dem Holzweg. Diese Wunde ist nicht von einer Machete“, ließ sich die Stimme von Antonio José Bolivar vernehmen. 
Der Bürgermeister drückte wütend sein Taschentuch aus. 
„Und du, was weißt du denn?“
„Ich weiß, was ich sehe.“ 
Der Alte trat näher an die Leiche heran, bückte sich, bewegte ihren Kopf und öffnete die Wunde mit den Fingern. 
„Sehen Sie die unterschiedlichen Schnitte? Sehen Sie, wie sie am Kiefer tiefer sind und nach unten hin flacher werden? Sehen Sie, daß es nicht eine Wunde ist, sondern vier?“
„Was zum Teufel willst du damit sagen?“ 
„Daß es keine Machete mit vier Klingen gibt. Prankenhieb. Das ist der Prankenhieb eines Ozelots. Ein ausgewachsenes Tier hat ihn getötet. Kommen Sie. Riechen Sie.“
Der Bürgermeister wischte sich mit dem Taschentuch über den Nacken. 
„Riechen? Ich sehe auch so, daß er verwest.“
„Bücken Sie sich und riechen Sie. Sie brauchen keine Angst vor dem Toten und vor den Würmern zu haben. Riechen Sie die Kleidung, das Haar, alles.“
Der Dicke überwand den Ekel, bückte sich und schnupperte wie ein ängstlicher Hund, ohne allzu nah heranzugehen. 
„Nach was riecht das?“ fragte der Alte. 
Einige Gaffer näherten sich, um ebenfalls an der Leiche zu schnuppern. 
„Ich weiß nicht. Woher soll ich das wissen. Nach Blut, nach Maden“, antwortete der Bürgermeister. 
„Es stinkt nach Katzenpisse“, sagte einer von den Gaffern. 
„Nach der Pisse eines Katzenweibchens. Eines großen Katzenweibchens“, präzisierte der Alte. 
„Das beweist noch lange nicht, daß die da ihn nicht umgebracht haben.“
Der Bürgermeister versuchte, seine Autorität wiederherzustellen, aber die ganze Aufmerksamkeit der Dorfbewohner richtete sich auf Antonio José Bolivar 
Der Alte fuhr fort, die Leiche zu untersuchen. 
„Ein Weibchen hat ihn getötet. Das Männchen muß noch irgendwo herumlaufen, möglicherweise verwundet. Das Weibchen hat ihn getötet und dann gleich angepisst, um ihn zu markieren, damit die anderen Tiere ihn nicht auffressen, solange sie das Männchen sucht.“ 
„Dummes Gerede. Diese Wilden haben ihn umgebracht und dann mit Katzenpisse bespritzt. Ihr schluckt aber auch jeden Blödsinn“, erklärte der Bürgermeister. 
Die Eingeborenen wollten widersprechen, aber die auf sie gerichtete Mündung war ein unmissverständlicher Befehl zu schweigen. 
„Und warum sollten sie das tun?“ griff der Zahnarzt ein. 
„Warum? Mich wundert, daß Sie das fragen, Doktor. Um ihn auszurauben natürlich. Was für einen Grund sollten sie sonst haben? Diese Wilden machen doch vor nichts halt.“ 
Der Alte schüttelte verärgert den Kopf und schaute den Zahnarzt an. Dieser begriff, was Antonio José Bolivar vorhatte, und half ihm, die Habe des Toten auf den Brettern des Bootsstegs auszubreiten.
Eine Armbanduhr, ein Kompass, eine Brieftasche mit Geld, ein Benzinfeuerzeug, ein Jagdmesser, eine silberne Kette mit dem Abbild eines Pferdekopfes. Der Alte sprach mit einem der Shuara in dessen Sprache, worauf der Eingeborene in das Kanu sprang und ihm einen Rucksack aus grünem Drillich reichte. 
Als sie ihn öffneten, fanden sie Gewehrpatronen und fünf sehr kleine Ozelotfelle. Gefleckte Katzenfelle, nicht größer als eine Hand. Sie waren mit Salz bestreut und stanken, wenn auch nicht so sehr wie der Tote. 
„Na also, Exzellenz. Mir scheint, der Fall ist gelöst“, sagte der Zahnarzt 
Der Bürgermeister, der nicht aufhörte zu schwitzen, schaute nacheinander die Shuara, den Alten, die Dorfbewohner und den Zahnarzt an und wußte nicht, was er sagen sollte.
Sobald die Indianer die Felle sahen, wechselten sie auf geregte Worte und sprangen in die Kanus. 
„Halt! Ihr bleibt hier, bis ich etwas anderes sage“, befahl der Dicke. 
„Lassen Sie sie gehen. Sie haben gute Gründe. Oder verstehen Sie etwa immer noch nicht?“ 
Der Alte sah den Bürgermeister an und schüttelte den Kopf. Plötzlich nahm er eins der Felle und warf es ihm zu. Der schwitzende Dicke fing es mit einem Ausdruck des Ekels auf. 
„Denken Sie nach, Mann. So viele Jahre hier und immer noch nichts gelernt. Denken Sie nach. Dieser Hurensohn von einem Gringo hat die Jungtiere getötet und mit Sicherheit das Männchen verwundet. Schauen Sie sich den Himmel an, es wird jeden Augenblick regnen. Stellen Sie sich vor: Das Weibchen muß auf Jagd gegangen sein, um sich den Bauch vollzuschlagen und dann die Jungen während der ersten Regenwochen saugen zu können. Die Jungen waren noch nicht entwöhnt, und das Männchen blieb bei ihnen, um auf sie aufzupassen. So ist das bei den Tieren, und so muß der Gringo sie überrascht haben. Jetzt läuft die Katze rasend vor Schmerz in der Gegend herum. Jetzt ist sie auf Menschenjagd. Es muß ein leichtes für sie gewesen sein, die Spur des Gringos zu verfolgen. Der Unselige trug den Milchgeruch, den sie witterte, auf seinem Rücken. Sie hat bereits einen Menschen getötet. Sie hat bereits Menschenblut geleckt, und für ihren kleinen Tierverstand sind alle Menschen die Mörder ihres Wurfes, für sie haben wir alle den gleichen Geruch. Lassen Sie die Shuara gehen. Sie müssen ihr Dorf und die Umgebung warnen. Die Katze wird mit jedem Tag verzweifelter und gefährlicher werden, und sie wird in der Nähe der Siedlungen Blut suchen. Verdammter Hurensohn von einem Gringo. Sehen Sie sich die Felle an. Klein, unbrauchbar. So kurz vor der Regenzeit jagen, und auch noch mit dem Gewehr! Schauen Sie, wie viele Löcher da drin sind. Verstehen Sie endlich? Sie beschuldigen die Shuara, und nun stellt sich heraus, daß der Gringo der Verbrecher ist. Jagd in der Schonzeit, und auch noch geschützte Arten. Und wenn Sie gerade an die Waffe denken, versichere ich Ihnen, daß die Shuara sie nicht haben, denn sie haben ihn weit weg vom Ort seines Todes gefunden. Glauben Sie mir nicht? Schen Sie sich die Stiefel an. Das Fersenstück ist zerrissen. Das heißt, daß das Weibchen ihn ein gutes Stück weit geschleift hat, nachdem es ihn getötet hatte. Schauen Sie sich die Risse im Hemd an, auf der Brust. Da hat das Tier ihn mit den Zähnen gepackt, um ihn zu ziehen. Armer Gringo. Sein Tod muß furchtbar gewesen sein. Sehen Sie sich die Wunde an. Eine der Krallen hat ihm die Halsschlagader zerfetzt. Er muß eine halbe Stunde mit dem Tod gekämpft haben, während das Weibchen sein hervorsprudelndes Blut trank, und danach, kluges Tier, hat es ihn zum Flußufer gezerrt, um zu verhindern, daß die Ameisen ihn auffraßen. Dann hat es ihn angepißt, um ihn zu markieren, und war wohl auf der Suche nach dem Männchen, als die Shuara ihn fanden. Lassen Sie sie gehen, und bitten Sie sie, die Goldsucher zu warnen, die am Ufer kampieren. Ein vor Schmerz halb wahnsinniges Ozelotweibchen ist gefährlicher als zwanzig Mörder zusammen.“ 
Der Bürgermeister erwiderte kein Wort und ging, um den Bericht für die Polizeistation von El Dorado zu schreiben. 

Dem Großvater zu erklären, was man in der Agentur eigentlich tut, ist schwierig; jede Branche und jede Organisation hat einen eigenen Lingo. Es ist faszinierend, Berufsleuten aus unbekannten Branchen zuzuhören und nichts zu verstehen; sie könnten ebenso gut Baskisch sprechen.
Für Schreibende ist die Aufgabe, komplexe Sachverhalte, die mit unverständlichen Fachbegriffen beschrieben werden, für die Lesenden nachvollziehbar und verständlich zu erläutern, Alltagsarbeit was sie allerdings nicht leichter macht.
Was man nicht versteht, kann man nicht beschreiben. Und wenn der Kontakt kein verständliches Briefing liefert, dann halt direkt beim Kunden nachfragen. In den meisten Fällen freuen sich Fachpersonen, wenn man sich für ihre Arbeit interessiert, und sie werden dir deine Fragen detailliert beantworten.