„Ottos Geheimnis“ von Roald Dahl (1990)

Um anderen Menschen die eigenen Qualitäten schmackhaft zu machen, helfen Beobachtungsgabe, Einfühlungsvermögen und Phantasie. Herr Hüpfenstich beweist zudem Geduld und Ausdauer darin, seine angebetete Nachbarin auf sich aufmerksam zu machen. Nicht einfach. Hat sie doch nur Augen für Otto, ihre Schildkröte. Und genau die bringt Herrn Hüpfenstich auf die rettende Idee und er die Dame auf neue Gedanken. Dass dabei etwas Schummelei im Spiel ist, sei dem Mann verziehen. Eine liebenswerte Geschichte für Kinder über Freud und Leid in der Kontaktanbahnung man darf gespannt sein, wie das ausgeht.

Lesedauer etwa achteinhalb Minuten

Herr Hüpfenstich lebte in einer kleinen Wohnung ganz oben in einem Hochhaus. Er lebte allein. Er war schon immer ein Eigenbrötler gewesen, und jetzt, nach seiner Pensionierung, war er einsamer denn je. In Herrn Hüpfenstichs Leben gab es jedoch zwei große Lieben. Die eine galt den Blumen, die er auf seinem Balkon zog. Sie wuchsen in Töpfen, Wannen und Körben, und im Sommer war der Balkon ein einziges Farbenmeer. Herrn Hüpfenstichs zweite Liebe war ein Geheimnis, das er tief in seiner Seele verborgen hielt. Der Balkon, der direkt unter seinem eigenen lag, ragte ein gutes Stück weiter vor, so daß Herr Hüpfenstich stets einen guten Ausblick auf das hatte, was dort unten vor sich ging. Der untere Balkon gehörte einer ansehnlichen mittelalten Dame namens Silber. Frau Silber war verwitwet und lebte auch allein. Und obgleich sie keine Ahnung davon hatte, war ausgerechnet sie der Gegenstand von Herrn Hüpfenstichs heimlicher Liebe. Er hegte diese Zuneigung schon seit Jahren von seinem Balkon aus, aber er war sehr schüchtern, und er hätte es niemals über sich gebracht, ihr auch nur das leiseste Zeichen seiner Liebe zu geben. Jeden Morgen wechselten Frau Silber und Herr Hüpfenstich ein paar höfliche Worte, wobei der eine von oben nach unten schaute und die andere von unten nach oben. Aber das war auch schon alles. Weiter gingen sie nicht. Die Entfernung zwischen ihren Balkonen mochte nicht mehr als ein paar Meter betragen, Herrn Hüpfenstich aber kamen sie wie Millionen Meilen vor. Dabei wünschte er sich sehnlichst, Frau Silber zu einer Tasse Tee und einem Stück Kuchen zu sich heraufzubitten, aber jedesmal wenn seine Lippen die Einladungswörter zu formen begannen, verließ ihn der Mut. Er war, wie ich schon sagte, ein äußerst schüchterner Mensch. Oh, wenn ich doch, malte er sich ständig aus, wenn ich doch etwas Ungeheuerliches vollbringen könnte, ihr zum Beispiel das Leben retten! Oder sie aus den Klauen bis zu den Zähnen bewaffneter Banditen befreien! Wenn er doch nur irgendeine fabelhafte Tat vollbringen könnte, die ihn in ihren Augen zu einem Helden machte. Ach, wenn … 
Der Jammer mit Frau Silber war zudem, daß sie all ihre Zuneigung und Liebe jemand anders schenkte und daß dieser Jemand eine kleine Schildkröte namens Otto war. Jeden Tag, wenn Herr Hüpfenstich über sein Balkongeländer lugte und unten Frau Silber sah, wie sie ihrem Otto zärtliche Worte zuflüsterte und ihm dabei den Panzer streichelte, packte ihn die lächerlichste Eifersucht. Es hätte ihm nicht einmal etwas ausgemacht, selber eine Schildkröte zu werden, wenn das bedeutete, daß ihm Frau Silber jeden Morgen den Panzer streichelte und zärtliche Worte zuflüsterte. Otto war schon seit Jahren bei Frau Silber und wohnte sommers wie winters auf ihrem Balkon. Rings um das Geländer herum hatte sie Bretter anbringen lassen, so daß Otto frei herumkriechen konnte, ohne über die Kante zu kippen, und in einer Ecke stand ein kleines Haus, in das er sich jeden Abend zurückzog und in dem er es gemütlich warm hatte. Wenn im November die kältere Jahreszeit einsetzte, polsterte Frau Silber Ottos Haus mit trockenem Heu aus, und dann krabbelte die Schildkröte hinein, wühlte sich tief ins Heu und schlief einige Monate lang ohne Wasser und Nahrung. So etwas nennt man Winterschlaf. In den ersten Frühlingstagen, wenn er das wärmere Wetter durch seinen Panzer spürte, wachte Otto wieder auf und krauchte sehr langsam und steifbeinig aus dem Haus und auf den Balkon. Dann schlug Frau Silber jedesmal vor Entzücken die Hände zusammen: „Da bist du ja wieder, willkommen, mein Schnuddelputz! Ach, was hast du mir gefehlt!“ In solchen Augenblicken wünschte sich Herr Hüpfenstich noch mehr als sonst, mit Otto zu tauschen und eine Schildkröte sein zu können. 
Nun kommen wir zu einem bestimmten strahlenden Morgen im Mai, als etwas geschah, das Herrn Hüpfenstichs Leben tatsächlich veränderte und in neue Bahnen lenkte. Er beugte sich über sein Balkongeländer und beobachtete Frau Silber, die ihrem Otto das Frühstück servierte. 
„Hier ist ein Salatherzchen für dich, mein Liebchen“, sagte sie dabei, „und hier ein ganz frisches Stückchen Tomate und ein knackiges Stückchen Sellerie.“ 
„Guten Morgen, Frau Silber», grüßte Herr Hüpfenstich, „wie wohl Ihr Otto heute morgen doch aussieht.“ 
„Ja, ist er nicht prachtvoll?“ antwortete Frau Silber, schaute auf und strahlte ihn an. 
„Prachtvoll, prachtvoll“, bestätigte Herr Hüpfenstich, ohne es zu meinen. Er dachte vielmehr zum tausendsten Male, während er in Frau Silbers zu ihm emporlächelndes Antlitz blickte, wie hübsch sie doch war, wie sanft und süß und freundlich, und das Herz tat ihm weh vor lauter Liebe. 
„Ich wünschte nur, er würde ein bißchen rascher wachsen“, fuhr Frau Silber fort, „ich wiege ihn jeden Frühling, wenn er aus seinem Winterschlaf erwacht, auf meiner Küchenwaage. Und ob Sie es glauben oder nicht, er hat in all den elf Jahren, die ich ihn habe, nicht mehr als ein Viertelpfündchen zugenommen! Das ist doch fast gar nichts!“ 
„Was wiegt er denn jetzt?“ fragte Herr Hüpfenstich. 
„Genau vierhundert Gramm“, antwortete Frau Silber, „grad soviel wie eine große Grapefruit.“ 
„Na ja, Schildkröten wachsen ziemlich langsam“, bemerkte Herr Hüpfenstich gemessen, „dafür können sie hundert Jahre alt werden.“ 
„Das weiß ich“, antwortete Frau Silber, „aber ich wünsch mir trotzdem so sehr, daß er ein kleines bißchen größer würde. Er ist ein so winziges Kerlchen.“ 
„Er scheint aber ganz zufrieden damit zu sein“, meinte Herr Hüpfenstich. 
„Ach nein, nicht im geringsten!“ rief Frau Silber. „Denken Sie doch nur, wie elend es ihn machen muß, daß er so klitzeklein ist! Jeder will doch groß werden.“ 
«Sie möchten ihn wohl wirklich schrecklich gern wachsen lassen, oder?“ fragte Herr Hüpfenstich, und bei diesen Worten machte es in seinem Hirnkasten plötzlich klick!, und eine umwerfende Idee fuhr ihm durch den Kopf. 
„Aber natürlich!“ rief Frau Silber. „Alles würde ich darum geben, wenn das passierte. Wissen Sie, ich habe nämlich Bilder von Riesenschildkröten gesehen, die sind so gewaltig, daß auf ihrem Rücken Menschen reiten können. Wenn Otto die sehen könnte, würde er gelb vor Neid werden!“ 
In Herrn Hüpfenstichs Hirnkasten wirbelten die Gedanken wie Propeller herum. Hier winkte ihm sein Glück! Aber ganz bestimmt! Greif zu! befahl er sich. Greif zu, und zwar flink! 
„Frau Silber“, sagte er, „wenn Sie wirklich daran interessiert sind: ich weiß zufällig genau, wie man Schildkröten schneller wachsen lassen kann.“ 
„Wirklich?“ schrie sie. „Ach bitte, verraten Sie’s mir doch! Hab ich ihm die falschen Sachen zu fressen gegeben?“ 
„Ich hatte einmal in Nordafrika zu tun“, sagte Herr Hüpfenstich, «daher kommen nämlich all diese Schildkröten in England, und ein Angehöriger eines Beduinenstammes hat mir das Geheimnis verraten.“ 
„Sagen Sie es mir!“ rief Frau Silber. „Ich flehe Sie an, verraten Sie es mir, Herr Hüpfenstich! Mein ganzes Leben lang werde ich’s Ihnen vergelten und ewig Ihre dankbare Sklavin sein.“ 
Als er die Wörter mein ganzes Leben lang und Sklavin hörte, überlief Herrn Hüpfenstich ein kleiner Glücksschauer. „Warten Sie hier“, sagte er, „ich muß eben hineingehen und Ihnen etwas aufschreiben.“ 
Nach ein paar Minuten war Herr Hüpfenstich wieder auf dem Balkon und hielt ein Blatt Papier in der Hand. „Ich werde Ihnen das an einem Bindfaden hinunterlassen“, kündigte er an, „sonst weht es uns nur fort. Hier kommt es schon.“ Frau Silber griff nach dem Blatt Papier und hielt es sich vor die Nase. Dann las sie das Folgende: 

OTTO MOK, OTTO MOK! 
SOL, SOL, OTTO, SOL! 
EDREW SORG, SALB CHID FUA! 
HÄLB CHID FUA, 
CHAM CHID GNAL! 
BLÖW NED REZNAP! 
UAK! SIRF! GNILSCH + KULSCH! 
EDREW TEF, OTTO, TEF! 
OTTO MOK, OTTO MOK –
KNIRT + SIRF TALAS! 

„Was soll denn das heißen?» fragte sie. «Ist das eine fremde Sprache?“ 
„Das ist die Sprache der Schildkröten“, erwiderte Herr Hüpfenstich. „Schildkröten sind in der Entwicklung sehr rückständig. Deshalb können sie nur Wörter verstehen, die rückwärts geschrieben sind. Das liegt doch auf der Hand, nicht wahr?“ 
„Ja, vermutlich“, entgegnete Frau Silber verwirrt. 
„Otto heißt natürlich auch rückwärts gelesen Otto“, erklärte Herr Hüpfenstich, „das können Sie ja sehen.“ 
„Jaja“, sagte Frau Silber. 
„Die anderen Wörter sind genauso rückwärts geschrieben», fuhr Herr Hüpfenstich fort. „Wenn Sie sie umdrehen, in die menschliche Sprache zurück, so sagen Sie einfach: 

OTTO KOMM, OTTO KOMM! 
LOS, LOS, OTTO LOS! 
WERDE GROSS, BLAS DICH AUF! 
BLÄH DICH AUF, 
MACH DICH LANG! 
WÖLB DEN PANZER! 
AUF! FRISS! SCHLING + SCHLUCK! 
WERDE FETT, OTTO, FETT! 
OTTO KOMM, OTTO KOMM –
TRINK + FRISS SALAT!“ 

Frau Silber studierte die Zauberwörter auf dem Zettel lange und gründlich. «Ich glaube, Sie haben recht», sagte sie, «wie klug. Aber es ist eine ganze Masse Gezische drin, heißt das was Besonderes?“ 
„Der Zischlaut bedeutet in jeder Sprache etwas Starkes, Kräftiges“, antwortete Herr Hüpfenstich, „besonders bei Schildkröten. Was Sie also jetzt zu tun haben, Frau Silber, ist folgendes: Sie heben Otto hoch, vor Ihr Gesicht, und flüstern ihm diese Wörter dreimal am Tag zu. Morgens, mittags und abends. Lassen Sie mich’s einmal hören.“ 
Frau Silber las die ganze Botschaft in Schildkrötensprache langsam und laut vom Blatt, wobei sie ein wenig über die seltsamen Wörter stolperte. 
„Nicht schlecht“, sagte Herr Hüpfenstich, „aber wenn Sie es Otto sagen, sollten Sie versuchen, etwas mehr Gefühl hineinzulegen. Wenn Sie alles richtig machen, wette ich mit Ihnen, um was Sie nur wollen, daß er in ein paar Monaten doppelt so groß ist wie jetzt.“ 
„Versuchen werde ich’s“, erwiderte Frau Silber, „versuchen werde ich alles. Und ob ich’s versuchen werde! Aber ob das was nützt, also: ich glaub’s nicht recht.“ 
„Warten Sie’s ab“, sagte Herr Hüpfenstich und lächelte zu ihr hinunter.

Natürlich kriegt Herr Hüpfenstich am Ende Frau Silber; die Länge der Geschichte übersteigt aber das Zumutbare, mindestens in einem Blog. Womit wir bei einem heiß diskutierten Thema sind: Ist die Aufmerksamkeitsspanne eines durchschnittlichen Lesers in Westeuropa am Beginn des 21. Jahrhunderts tatsächlich kürzer als die eines Goldfisches, nämlich acht Sekunden (der Goldfisch bringe es auf neun, sagt man)? Forschungsergebnisse stellen fest, dass die Aufmerksamkeitsspanne sinkt, und zwar kontinuierlich und recht schnell.
Aber ist die Frage überhaupt relevant für einen Schreibenden? Nein, ist sie nicht. Die Tatsache, dass weniger gründlich gelesen wird, bringt die Notwendigkeit hervor, kurz, klar und klug zu scheiben. Und kurze, klare und kluge Texte brauchen Zeit. Das wusste schon Blaise Pascale 1656: „Ich habe diesen Brief nur deshalb länger gemacht, weil ich nicht Muße hatte, ihn kürzer zu machen.“ Sag das nächstes Mal dem Kontakt, wenn sie oder er mal wieder etwas bis morgen Mittag haben will.