„Seele mit Käse“ aus „Mehr Liebe“ von Frank Schulz (2010)

Manchmal möchte man jemanden aus der Reserve locken, um etwas zu erreichen. Ziele gibt es unzählige und auch die Möglichkeiten sind vielfältig. Rumstehen, grübeln oder zaudern ist nicht sinnvoll. So kann gegen Hunger der simple Erwerb eines Brötchens helfen. Setzt man dabei allerdings etwas Phantasie und Charme ein, erweitern sich die Chancen auf Befriedigung weiterer menschlicher Bedürfnisse.

Lesedauer etwa fünf Minuten

Seit Wochen schon holte Brinkmann seine Brötchen nicht länger von Jensen, sondern aus der BackBord-Filiale. Die lag auf dem direkten Weg zur U-Bahn, buk die Schrippen knuspriger und preiswerter und bot mehr Auswahl. Doch nichts davon gefährdete Brinkmanns jahrzehntelange Treue zu Jensen, sondern »Fr. Lammers«. 
Das Namensschildchen trug sie am Träger ihrer signalroten Schürze mit dem BB-Emblem. Schwarzer Samt bändigte ihr falbes Haar, und auf ihren niedergeschlagenen Lidern lag unfehlbar ein Engelshauch von grünem Schatten. Sie trug keinen Ehering. Trotzdem, sie war bestimmt nicht mehr Ende Dreißig, wiewohl sie mitunter wirkte wie Anfang Dreißig. Anfangs unmerklich, begann Brinkmann, über ihre dauernde Traurigkeit zu grübeln. 
Den ganzen Oktober lang fast jeden Morgen das Rauschen des Regenwassers auf dem Asphalt, das der beleuchtete Autoverkehr aufpeitscht; die fuchtelnden, kohlschwarzen Zweige der Linden; die darüber hin fliegenden, dreckigen Riesenschwämme der Wolken … Doch sobald Brinkmann gegen sechs Uhr zehn um die Ecke des Blocks bog, erstrahlte schräg gegenüber in Gelb- und Rottönen die Fensterfront der BackBord-Filiale, und von der ewigen Frage, ob Fr. Lammers Dienst hatte, leierten seine Knie aus – zumindest fühlte es sich so an. Wochenlang war Brinkmann so vernarrt in Fr. Lammers, daß er, als sie einmal ganz allein hinterm Verkaufstresen stand, am offenen Eingang vorbeistakste – nur um sich selbst zu beweisen, daß er so vernarrt noch gar nicht war. Seit seiner Scheidung hatte ihn keine Frau mehr verwirrt. Wenn nicht besessen, so doch beseelt war er von dem Gedanken, sie lächeln zu sehen. Wochenlang schlief er nicht eher ein, bis daß er einen Dialog entworfen hatte, der witzig genug für sie wäre. 
Dann jener Morgen Anfang November. Er hatte gut geschlafen und unter der Dusche beschlossen, es heute zu wagen. Schließlich war er kein Jungspund mehr. Einem Plakat an der Tür zufolge lief die „Aktion Schwabentage“. Eine Schlange hatte sich gebildet. Es duftete nach Kaffee. Brinkmann öffnete seinen Parka. Seine Brille war beschlagen, so daß er sie abnehmen mußte und beim Warten in die Zeitung schaute, die er aus dem Ständer gezogen hatte; irgendwas über Hartz IV. Doch er nahm gar nicht wahr, was er las. Er rekapitulierte stumm den Spruch, den er aufsagen wollte. Er litt: Sie bediente allein, die Schlange verlängerte die Frist, sie betrachten zu können – und ausgerechnet dann beschlug seine Brille, ohne daß er ein geeignetes Putztuch dabei gehabt hätte! Schemenhaft schwebte Fr. Lammers zwischen den großen Körben mit den Brötchensorten und der gläsernen Theke voller Zuckerguß und Nougat hin und her. Er sättigte sich an ihrer Stimme. 
In gleichbleibender Trübsal rupfte sie der Schlange die nachwachsenden Köpfe ab. Schließlich wurden Brinkmanns Brillengläser wieder durchsichtig; wegen der bleibenden Nebelränder fühlte er sich dennoch tölpelhaft. Doch es kam ohnehin anders. 
Der letzte vor ihm war ein Recke in einem grünen Overall, mit schwarzgrauen Schafslocken und klafterbreiten Schultern. Um die Taille trug er einen Gurt mit leeren Karabinerhaken. „Bitte“, sagte Fr. Lammers. „Ich hätt‘ gern ’n Kaffe to go, schwarz, und –“, er deutete auf einen langen Laib Weißbrot aus Dinkel, „– so ’ne Seele mit Käse. Und ’n Lächeln.“ 
Brinkmann verschlug es fast den Atem von der Salve der widersprüchlichen Impulse: Frustration, schlichter Ärger, jungenhafter Wettbewerbsstreß, aber auch geschlechtssolidarische Einfühlung, ja ein Hauch Anerkennung … Ohne Stocken, ohne die tiefe Stimme zu erheben, hatte der Kerl das vorgebracht. Von ihm zu sehen bekam Brinkmann nur perückenartigen Hinterkopf und breites Kreuz. Frontal jedoch erlebte er mit, wie Fr. Lammers aufblühte. 
Ja, aufblühte. Aufblühte wie eine Rosenblüte in extremem Zeitraffer. Noch verschlossen, hatte sie gestutzt, aber nicht länger als Brinkmann gebraucht, um zu verstehen, was da passierte, und nach anderthalb Wimpernschlägen platzte ihre anmutige Schwermut auf, und mit einem verlegen übertriebenen Ha! entfaltete sie ein Antlitz mit Grübchen, strahlenden kleinen Zähnen und Brauenspiel. Trug sie heute Rouge? Während sie die Kanne aus der Kaffeemaschine nahm und einschenkte, sagte sie mit aufgehellter Stimme: „Stehen Sie hier mal den ganzen Tag, da würde Ihnen das Lachen auch vergehen!“ 
„Wir können ja tauschen“, sagte der Kerl, freundlich, sportlich. „Was haben Sie denn zu bieten?“ „Gebäudereinigung.“ „Ach du Schande, nee!“ schmetterte Fr. Lammers, glücklich entsetzt, mit der Unverschämtheit ihrer unverhofften Schönheit. „Das machen Sie man selber, da hab‘ ich keine Lust zu!“ Sie reichte ihm eine Tüte, in der die Seele mit Käse steckte, und strahlte an ihm vorbei, durch den Nebel direkt in Brinkmanns Pupillen. 
„Seh’n Sie?“ sagte der Kerl und fügte, da sie nichts erwiderte, so schwach wie das Echo eines Echos hinzu: „Seh’n Sie.“ „Vierfuffzig“, sagte Fr. Lammers. 
Brinkmanns Bestellung kam fast wie ein Raunzen heraus, doch Fr. Lammers‘ Lächeln hielt mit nahezu unverminderter Energie; als sie ihm das Wechselgeld reichte, strahlte sie bereits seinen Nachfolger an. Noch als er von draußen durch die Scheibe hineinblickte in die rotgelbe Sphäre, bevor er seinen Weg zur U-Bahn fortsetzte, war ihr Lächeln unverändert. Ein paar Schritte hielt er Ausschau nach dem Kerl im grünen Overall, vergeblich. Er hätte ihm im Vorbeigehen auf die Schulter geklopft oder so. 
Das Gefühl der Demütigung und Erleichterung hielt den ganzen Arbeitstag an. Aber es war ihm ja nicht fremd, und was konnte man schon tun? Die Brötchen wieder bei Jensen holen.

Jetzt mal ehrlich: „In gleichbleibender Trübsal rupfte sie der Schlange die nachwachsenden Köpfe ab“ ist einfach der Hammer für „Sie bediente einen Kunden nach dem anderen“. Bildhafte, präzise, lebendige Sprache bringt 8K auf einen Smartphone-Monitor. „Auf der Wiese blühten Blumen“ ist schwarzweiß; „Auf der Bergwiese blühten Enzian, Knabenkraut und Himmelsschlüssel“ ist farbig. Allerdings ist Genauigkeit wichtig; schiefe und hinkende Metaphern und Bilder zeugen von Inkompetenz aller am Ablauf Beteiligten. Noch schlimmer sind Worthülsen: Wehr dich wie eine Löwin, wie ein Löwe gegen den „persönlichen Beratungsgutschein“ und die „maßgeschneiderte Lösung“!

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