„Der Winterling“ aus „Voll fiese Flora“ von Monika Geier (2021)

Sorgfältige Information schützt dich nicht nur vor Peinlichkeiten. Bei der Recherchearbeit zur Beseitigung von Unsicherheiten stößt man gelegentlich auf erstaunliche Persönlichkeitsmerkmale. Dinge, die auf den ersten Blick nicht zu erkennen sind, weil sie geradezu unterirdisch ihre Wirkung entfalten und sich dabei bedeckt halten. Im Fall des entzückenden Winterlings empfiehlt sich beispielsweise Vorsicht beim Aufdecken.

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Wenn der Winterling erwacht, muss er den Eindruck haben, er sei die einzige Blume auf der ganzen Welt. Rund um ihn herum nur totes Laub, kahle Gehölze, Minustemperaturen und hie und da mal ein Schneeglöckchen. In diese Welt hinein blüht der Winterling. Ein Einzelgänger ist er trotzdem nicht, denn er hat Familie. Mit der bildet er einen Teppich aus kleinen gelben Blüten mit lustigen Blattmanschetten drum herum. Weil er aber so klein ist und seine Blüte nur im Sonnenschein öffnet, sehen wir ihn, wenn überhaupt, meist nur als einen Tupfen Frühlingsgrün im nassen Matsch. Uns, die wir den Sommer und damit Gärten voller Rosen und schattige Wälder kennen, kann ein Winterling nicht übermäßig beeindrucken. Für ihn selbst dagegen besteht sein Leben aus lauter Superlativen: Er ist der Erste, der Gelbste und der Grünste, der Größte und von der Sonne Verwöhnteste, der Attraktivste für alle Bienen, der Duftendste, Fruchtbarste und der Gefährlichste. Tatsächlich hat der Winterling zwei Eigenschaften, die ihm auch im Sommergarten Beachtung einbringen würden: Er duftet sehr angenehm, frisch wie ein Stiefmütterchen, intensiv und weit tragend, allerdings eben nur im Sonnenschein. Und er ist, auch ohne Sonne, höchst giftig. Vor allem der unterirdische Teil, sein Rhizom. Dieses Gift ist bei uns weitgehend unbekannt. Bis auf ein paar Begebenheiten mit verendetem Weidevieh kennen wir keine tödlichen Fälle, auch hier befindet sich der Winterling zu weit unterm Radar. Von einer langen mörderischen Kulturgeschichte, wie sie etwa die Tollkirsche besitzt, ist er weit entfernt.
Ich glaube, der Winterling ist einer, der vom Sommer träumt. Und das mit großer Intensität, mit der Ahnung von Wärme und Farben, von Fröhlichkeit und dem Wissen, worauf es ankommt. Nicht jede Pflanze kann so wunderbaren Duft erzeugen und auf frostigem Boden ein lichter Frühlingsgarten sein. Leider aber ist es zu heiß für ihn, wenn die Party im Sommer wirklich losgeht. Dann muss er sich gifterfüllt in die Erde zurückziehen. Weil er der Größte eben nur im Winter sein kann.

Einen ganz anderen Standpunkt einzunehmen, ist meist schwierig, häufig überraschend und immer hilfreich. Douglas Adams hat zu diesem Zweck die Standpunktkanone erfunden: Wen man damit ins Visier nimmt, der steckt in der Haut des anderen. Schade, dass es sie noch nicht gibt, denn es ist schwierig, Empathie zu lernen.
Ein erster Schritt kann sein, den anderen wahr- und sich selbst nicht sooo wichtig zu nehmen. (Der andere kann übrigens auch der Kunde sein. Und auf jeden Fall der Leser/die Leserin deines Textes.)