„635 Tage im Eis“ von Alfred Lansing (1986) und „Die Endurance“ von Caroline Alexander (1998)

Das Buch, dem wir den heutigen Text entnahmen, erschien bereits 1986. Dafür sammelte der Journalist Robert Lansing aus Tagebuchaufzeichnungen, Briefen, Zeitungsberichten und Interviews mit Überlebenden Informationen über die Antarktis-Expedition Shackletons 1914 – 1917.
Stell dir bitte die Lage der Männer vor: Ihr Schiff, die Endurance, sitzt seit zehn Monaten im Packeis fest, ehe es davon manövrierunfähig gemacht wird. In der ausgesuchten Szene wird Kapitän Shackleton seine Mannschaft dazu bringen, fast ihre ganze Habe zurückzulassen und ihm auf seinem ungewissen Ausweg zu folgen.

Lesedauer gut neun Minuten

„Möge Gott Euch helfen, Eure Pflicht zu tun & Euch sicher durch alle Gefahren zu Land und zur See geleiten. Möget Ihr die Werke des Herrn schauen & all seine Wunder in Ewigkeit.“
Diese Worte waren auf das Deckblatt der Bibel geschrieben, die Königinmutter Alexandra von England der Expedition mit auf den Weg gegeben hatte. Als Shackleton die Endurance verließ und langsam über das Eis auf ihr Zeltlager zuging, hielt er diese Bibel in seiner Hand. 
Die anderen nahmen von seiner Ankunft kaum Notiz. Sie krochen geschäftig in und aus den Zelten und versuchten wie benommen, es sich mit den ihnen verbliebenen Kräften einigermaßen bequem zu machen. Einige legten Planken nebeneinander, um nicht auf dem schneebedeckten Eis liegen zu müssen. Andere breiteten Segeltuchplanen auf den Boden. Doch es gab nicht genug Bodenbelag für jeden, einige der Männer mußten direkt auf dem nackten Schnee liegen. Es machte kaum einen Unterschied. Schlaf war das einzige, was zählte. Und sie schliefen – die meisten engumschlungen mit ihren nächsten Zeltkameraden, um nicht zu erfrieren. 
Shackleton hingegen versuchte nicht einmal zu schlafen. Ununterbrochen lief er auf dem Eis auf und ab. Die Pressungen waren immer noch stark, und verschiedentlich wurde auch das Lager heftig erschüttert. Zweihundert Meter entfernt erhoben sich die dunklen Umrisse der Endurance in den klaren Nachthimmel. Um 1 Uhr spürte Shackleton auf seinem Weg eine weitere Erschütterung, und ein schmaler Spalt schlängelte sich zwischen den Zelten über die Scholle. Shackleton beeilte sich, die erschöpften Schlafenden zu wecken. Es bedurfte einer Stunde schwerer Arbeit, das Lager auf die größere Hälfte der Scholle zu verlegen. 
Danach war es überall ruhig, doch unmittelbar vor Einbruch der Dämmerung hörte man einen lauten Knall von der Endurance. Bugspriet und Klüverbaum waren gebrochen und auf das Eis gefallen. Für den Rest der Nacht konnte Shackleton den gespenstischen Rhythmus des Stampfstags hören, das durch die Bewegung des Schiffes langsam vor und zurück gezerrt wurde. 
Als der Morgen kam, war das Wetter noch immer trübe und verhangen, doch die Temperaturen waren auf minus vierzehn Grad gestiegen. Die Männer kletterten steif und kalt aus ihren Lagern auf dem Eis. Sie brauchten sehr lange, bis sie richtig wach waren. Shackleton drängte sie nicht, und nach einer Weile begannen sie von selbst, die Ausrüstung zu sichten und auf den Schlitten zu verstauen. Es war eine stille Zeit, und es wurden kaum Befehle gegeben. Jeder begriff seine Aufgabe und machte sich an ihre Erledigung, ohne dazu aufgefordert werden zu müssen. 
Wie alle wußten, sah der Plan vor, daß sie zur 346 Meilen nordwestlich gelegenen Paulet-Insel marschierten, auf der sich noch die 1902 zurückgelassenen Vorräte befinden sollten. Die Entfernung war weiter als die Strecke von New York nach Pittsburgh, Pennsylvania, und sie mußten zwei ihrer drei Boote hinter sich herziehen, weil man davon ausging, früher oder später auf offenes Wasser zu stoßen. 
McNeish und McLeod begannen, den Walfänger und einen der Kutter auf die Schlitten zu hieven. Zusammen mit ihren Schlitten würden die Boote jeweils mehr als eine Tonne wiegen, und niemand machte sich Illusionen, daß es etwa leicht werden würde, sie über die unebene Eisfläche mit ihren bisweilen bis zu zwei Stockwerken hohen Druckgraten zu ziehen. Trotzdem gab es erstaunlicherweise keinerlei Anzeichen von Entmutigung unter den Männern. Alle arbeiteten in einem Zustand benommener Müdigkeit vor sich hin, und niemand hielt inne, um über die grausamen Konsequenzen des Verlusts ihres Schiffes nachzudenken. Auch die Tatsache, daß sie ihr Lager auf einer nur etwa zwei Meter dicken Scholle aufgeschlagen hatten, beunruhigte sie nicht. Verglichen mit dem Alptraum der Strapazen und Ungewißheit der letzten Tage auf der Endurance war es das reinste Paradies. Es war genug, daß sie noch lebten – und sie taten nur, was sie tun mußten, damit das so blieb. 
Man konnte sogar einen Hauch gedämpfter Hochstimmung feststellen. Zumindest lag jetzt eine klar umrissene Aufgabe vor ihnen. Die neun Monate der Unentschlossenheit und Spekulation darüber, was passieren könnte, die Zeit des ziellosen Treibens mit dem Packeis war vorüber. Jetzt mußten sie einfach nur hier rauskommen, wie entsetzlich schwierig das auch sein mochte. 
Im Laufe des Tages pilgerten immer wieder kleine Gruppen zu dem Wrack, das ihr Schiff gewesen war. Doch jetzt war die Endurance kein Schiff mehr, sie lag nicht einmal richtig im Wasser. Sie war ein zerrissenes, verbogenes Holzgerippe. In seiner Wut, sie zu zerbrechen, war das Eis durch die Bordwände gedrungen und stützte so den zerbrochenen Rumpf. So lange die Pressungen anhielten, würde das Schiff über Wasser bleiben. 
Auf einem Ausflug zog eine Gruppe auf der vorderen Rahnock, der einzigen noch stehenden Takelung, einen Union Jack auf. Wenn die Endurance unterging, sollte sie es zumindest mit fliegenden Fahnen tun. 
Das Bepacken der Schlitten dauerte bis zum nächsten Tag an, und am Nachmittag rief Shackleton sämtliche Männer in der Mittes des Zeltkreises zusammen. Seine Miene war ernst. Er erklärte, daß es unbedingt erforderlich sei, daß alles Gewicht bis zum absoluten Minimum reduziert würde. Jeder dürfe lediglich die Kleider auf seiner Haut plus zwei Paar Handschuhe, sechs Paar Socken, zwei Paar Stiefel, einen Schlafsack und ein Pfund Tabak mitnehmen – sowie zwei Pfund persönlicher Ausrüstung. Im Brustton der Überzeugung legte Shackleton dar, daß verglichen mit ihrem Überleben keine Sache irgendwelche Relevanz hätte, und ermahnte die Männer, sich rücksichtslos jeder unnötigen Unze Gewicht zu entledigen, egal wie wertvoll sie sein mochte. 
Nachdem er gesprochen hatte, griff er unter seinen Parka, zog ein goldenes Zigarettenetui und mehrere Goldmünzen hervor und warf sie vor seine Füße in den Schnee. 
Dann schlug er die Bibel auf, die Königin Alexandra ihnen gegeben hatte, und riß das Deckblatt und die Seite mit dem 23. Psalm sowie eine weitere Seite aus dem Buch Hiob heraus, auf der folgender Vers stand: 
„Aus wessen Schoß geht das Eis hervor, und wer hat den Reif unter dem Himmel gezeugt, daß Wasser sich zusammenzieht wie Stein und der Wasserspiegel gefriert?“ 
Dann legte er die Bibel in den Schnee und ging davon. 

Spoiler: Es sind übrigens alle durchgekommen. Alle.

Dürfen wir hier die gleiche Szene noch einmal anders präsentieren? 

1998 griff Caroline Alexander die Geschichte auf und schrieb Die Endurance, ein Buch mit bis dahin weitgehend unbekannten Fotos des mitreisenden Fotografen Frank Hurley sowie zahlreichen Originalzitaten der Mannschaft.

Lesedauer knapp vier Minuten

„Versammelt auf dem Eis: Der Boss erklärt die Lage, und wir treten ab“, schrieb Wordie. Sie hatten ihr Lager auf einer Eisscholle, die ihnen stabil genug erschien, aufgeschlagen. Sie lagerten kaum 100 Meter vom zerschmetterten Schiff entfernt. Soweit sie um sich herum in alle Himmelsrichtungen schauen konnten, erhoben sich riesige zerklüftete Eistrümmer. Die Temperatur war auf minus 26 Grad gefallen. Sie befanden sich 350 Meilen vom nächsten Land entfernt. 
Jeder bekam einen Schlafsack und wurde einem der fünf Zelte zugeteilt. 
„Wir hatten nur 18 Fellschlafsäcke & losten sie untereinander aus«, schrieb McNish. „Ich war froh wie selten in meinem Leben, daß ich einen zog.“ Durch einige kleine Tricks, die den Seeleuten nicht entgingen, ergab es sich, daß die meisten Offiziere die weniger begehrten Jaeger-Wollschlafsäcke zogen. 
„Da sind einige krumme Dinger beim Losen abgelaufen“, bemerkte der Matrose Bakewell. „Sir Ernest, Mister Wild … Kapitän Worsley und einige andere Offiziere haben Wollschlafsäcke gezogen. Die warmen Fellschlafsäcke gingen durchweg an die Mannschaft.“ 
Auf ihren Bodenmatten, die nicht wasserdicht waren, lauschten die Männer dem Knirschen der Eisschollen. Es klang wie entfernter Donner, der sich, nun ungedämpft durch die Holzplanken ihres Schiffes, direkt unter ihren Köpfen fortsetzte. Die Stoffzelte waren so dünn, daß der Mond durch sie hindurchschimmerte. Dreimal in der Nacht brach die Eisscholle, auf der sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, direkt neben ihnen auf, und sie mußten jedesmal ihre Zelte abbrechen, die Schlafsäcke und ihre Matten unter den Arm klemmen und alles erneut an anderer Stelle aufbauen. 
„Eine schreckliche Nacht“, schrieb James. „Das Schiff hob sich düster gegen den Himmel ab & man hörte das Reiben der Eisschollen … das Ächzen des Holzes war wie der Schrei einer lebenden Kreatur.“ 
Shackleton kehrte nicht in sein Zelt zurück, sondern schritt das Eis ab, horchte auf die Spannung und starrte auf die Lichter in seinem Schiff. „Wie eine Lampe in einem Katenfenster, durchdrang es die Nacht“, schrieb er. „Bis zum Morgen stand die Endurance unter einem gewaltigen Druck. Da war nur der Klang von berstendem Holz, und dann erlosch das Licht.“
In der eisigen Morgendämmerung stießen Hurley und Wild zu Shackleton, um Petroleumkanister aus dem Schiffswrack zu bergen. Sie errichteten eine provisorische Kombüse, machten warme Milch und brachten sie den Männern in die Zelte. „Ich bin überrascht und ein wenig verdrossen“, vermerkte Shackleton trocken, „über die selbstverständliche Weise, in der einige der Männer diesen Beitrag zu ihrem Wohlbefinden aufnahmen. Sie konnten nicht ermessen, wieviel Arbeit wir in der frühen Morgendämmerung für sie geleistet hatten, und ich hörte Wild sagen: ,Wenn noch irgendeiner der Herren seine Schuhe geputzt haben will, stelle er sie bitte nach draußen!‘“
Nach dem Frühstück rief Shackleton die Männer erneut zusammen und teilte ihnen mit, daß sie in einigen Tagen nach Snow Hill oder Robertson Island aufbrechen würden. Beide Orte lagen mehr als 200 Meilen nordwestlich. 
„So war es bei ihm: was geschehen war, war geschehen“, schrieb Macklin. „Es lag hinter ihm in der Vergangenheit, und er richtete seinen Blick in die Zukunft … Ohne Gefühlsregung, weder melodramatisch oder aufgeregt, sagte er: ‚Das Schiff und die Ausrüstung sind verloren – laßt uns also jetzt nach Hause.’“ 
Sie mußten auf dem Marsch nicht nur die notwendigste Ausrüstung mitnehmen, sondern auch zwei der drei Boote. Jedem Mann wurden neue Winterkleidung und ein Pfund Tabak ausgehändigt. Darüber hinaus durfte jeder nur zwei Kilo persönlichen Besitz mitnehmen. Es wurden nur wenige Ausnahmen zugelassen. So erlaubte Shackleton Hussey, sein Banjo mitzunehmen, weil er damit die Männer aufheitern konnte. 
Um mit gutem Beispiel voranzugehen, warf Shackleton vor versammelter Mannschaft eine Handvoll Goldmünzen und seine goldene Uhr aufs Eis. Auch seine silbernen Haarbürsten und seine Kleiderkoffer ließ er zurück. Dann nahm er die Bibel, die dem Schiff vor seiner Abfahrt von Queen Alexandra überreicht worden war, riß die Widmung und einige weitere Seiten heraus und legte auch sie auf das Eis. Die Seiten, die er aufhob, enthielten den 23. Psalm und diese Verse von Hiob: 
Aus wessen Schoß geht das Eis hervor, und wer hat den Reif unter dem Himmel gezeugt, daß Wasser sich zusammenzieht wie Stein und der Wasserspiegel gefriert?

Beherztes Vorangehen oder, um es auf Marketing zu sagen, „Leadership beweisen“, ist überzeugender als jede Rede, und sei sie noch so fein ziseliert.
In der Kommunikation ist das Vorangehen meist ein Versprechen. Oder USP oder UAP oder Promise oder wie auch immer – egal, wie man das Kind nennt: Was man verspricht, muss man halten, sonst kommt man beim Käufer als unzuverlässig, unglaubwürdig und respektlos an. Das kritische Hinterfragen von Nutzenversprechen und Produktvorteilen ist zwar unbequem, kann aber dazu helfen, das wirklich wichtige Argument zu finden.

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