„Hendrikje, vorübergehend erschossen“ (2007) von Ulrike Purschke

Wie sehr ihr Alltag von Situationen geprägt wird, die sie als persönliche Katastrophen erlebt, erzählt Hendrikje ihrer Therapeutin. Von der Arbeit in einem Café über das gestohlene Fahrrad bis zu endlosem Warten auf ihren Freund reicht ihr empörter Bericht. Dass die Zukunft für diesen Pechvogel noch mehr zu bieten hat, lässt sich bereits ahnen. Hannah Ullner las aus diesem Buch beim Freitagssalon am 24. März 2023 diesen Ausschnitt vor.

Lesedauer sieben Minuten

„Das war Sugar Browns Neujahrskolumne“, erklärt Hendrikje der Palmenberg und fügt, während sie den ausgeschnittenen Zeitungsartikel wieder zusammenfaltet und in die Hosentasche steckt, hinzu: „Ich wollte zum ersten Mal dem doofen Bruno recht geben, der einmal über eine andere Sugar-Brown-Kolumne gesagt hat: ,Der Typ schreibt den Scheiß nur für Geld.‘“

„Aber warum denn?“, fragt die Palmenberg. „Das passt doch sehr zu Ihrer Situation.“

„So was kann nur einer schreiben, der keine Ahnung von persönlichen Katastrophen hat. Ich meine, klar, rein theoretisch hat er recht, den Socken noch mal stopfen, das ist natürlich ein edler Vorsatz, nur war ich Anfang des Jahres in der Situation, nicht mal mehr einen Faden zu haben. So was vergessen die Klugscheißer immer.“

Die Palmenberg seufzt und schaut Hendrikje mit leichter Resignation an. „Also gut, lassen wir Sugar Brown. Was geschah als Nächstes? Bleiben Sie bitte streng in der Chronologie.“

„Ja. In den ersten Januartagen war das mit dem Finanzamt und der Selbstanzeige, und ich habe einfach im Café weitergearbeitet. Ich weiß nicht, was mit den Gästen los war, ich glaube, dass die alle schreckliche Weihnachten verbracht hatten, alle Leute waren unfreundlich und aggressiv und durchgeknallt, aber das hab ich schon oft beobachtet nach dem Fest der Liebe.

An einem Tisch saß ein Geschäftsmann in einem eleganten Nadelstreifenanzug, halt so ein richtiger Bilderbuchhanseat, vielleicht sogar ein Senator, ganz distinguiert, und der saß da vor einem Glas Champagner, zog plötzlich seine Schuhe und seine Strümpfe aus und fing an, sich aus einem kleinen Fläschchen eine Tinktur zwischen die Zehen zu pinseln. Mitten im Café! Total ungerührt. Stellen Sie sich das vor. Ich hab nichts gesagt, ich war zu schockiert.

Dann bin ich an einen Tisch und da hält mich eine Oma an und fragt mich, wann die Züge nach Frankfurt fahren. Und das weiß ich zufällig, weil ich mein schönes rotes Rennrad oft am Metallrahmen des Fahrplans festschließe, wir sind ja genau gegenüber vom Bahnhof, und ich sage: ,Ja, jede Stunde 19 nach von Gleis 7′.

,19 nach!‘, wiehert er. ,Das ist ja geil! Die Züge nach Frankfurt!‘ Und er kreischt richtig hysterisch und kriegt sich gar nicht wieder ein: ,19 nach! Die Züge nach Frankfurt! Ist das geil! Und die nach Hannover? He Fräulein, und die nach Hannover?!‘ Ich war völlig brüskiert, dass dieser Freak so ein Theater machte, und sagte sehr kühl: ,Das sind dieselben.‘ Das weiß doch jeder, dass die Züge von Hamburg nach Frankfurt über Hannover fahren, das war doch rein provokativ, dass der das fragte, aber er kreischte weiter, richtig laut: ,Dieselben! 19 nach über Hannover nach Frankfurt! Ist das geil-o-geil! Das glaubt mir kein Mensch!‘ Ich hab den dann ignoriert, aber die Oma fühlte sich verarscht, und zwar von mir, weil ihr zwischenzeitlich natürlich klar geworden war, dass sie eine Kellnerin nach den Abfahrtszeiten am Bahnhof gefragt hatte. Jetzt traute sie mir nicht mehr über’n Weg und dachte wahrscheinlich, ich würde mit dem Freak unter einer Decke stecken, dabei lag mir nichts ferner als das. Sie ging kopfschüttelnd raus und murmelte anklagend: ,19 nach, man wird ja wohl noch fragen dürfen, Entschuldigung.‘

Außerdem saß am Ecktisch noch die Babygruppe, also vier Mammas mit vier Babys, das heißt, dass später, wenn die weg sind, in jedem Aschenbecher, auf jedem Stuhl und in den Kerzen aufgeweichte Butterkekse liegen und unter jedem Stuhl ’ne volle Windel. Ich hasse das, aber das Ekligste war, dass ein Pärchen am Nebentisch dabei war, ein Baby zu machen, jedenfalls sah es so aus. Die Frau saß auf dem Schoß des Mannes, sie hatten ihre dicken Wintermäntel an und bewegten sich sehr, sehr seltsam. Ihre Gesichter verfärbten sich, also ehrlich, ich glaube, die haben gevögelt. Ich hab nichts gesagt, ich hatte einfach nicht das Gefühl, dass ich genügend Autorität gehabt hätte, jemanden auch nur davon abzuhalten, ans Vögeln zu denken, schließlich hatte ich eben noch nicht mal einer Oma die Abfahrtszeiten der Züge nach Frankfurt ungestraft mitteilen können.

Aber zu meiner großen Beruhigung sah ich, dass der Nadelstreifensenator sich seine Socken jetzt wieder anzog, nach Verarztung seines Fußpilzes.

Ich habe vier koffeinfreie Cappuccini an den Babytisch gebracht und kriegte Gesprächsfetzen dieser Muttis mit, also, diese Babys fingen an, mir leid zu tun. Dieser Freak saß am Nebentisch und kicherte die ganze Zeit glucksend in sich hinein, er hatte sich noch nicht wieder eingekriegt, und eine dieser Mammis keifte: ,Du bist das siebte Zeichen der Hautalterung!‘, hab ich zu ihm gesagt. Ihre Freundin stöhnte: ,Ich musste die ganze Wäsche zu meiner Schwiegermutter schaffen!‘ Und die Dritte posaunte raus: ,Ich fühle mich jetzt den ganzen Tag trocken!‘ Die Erste schrie: ,Du bist das Schmutzereignis, das ich nicht vergesse!, hab ich ihn total angebrüllt.‘ 

Ich weiß nicht, ob sie ihren Mann oder ihr Baby meinte, und von dem Tisch, an dem das Pärchen sich einen Stuhl teilte, schmatzte es herüber und ich dachte: Gleich werde ich wahnsinnig, und da kam der doofe Bruno rein und setzte sich an den Tresen, und ich war so fertig, dass ich anfing, mich über den doofen Bruno zu freuen. Ich bin aus Versehen sogar richtig nett zu Bruno gewesen, ich hab ihm seinen Espresso hingestellt und ,Fröhliches Neues Jahr‘ zu ihm gesagt, aber er nickte nur und nuschelte ,Dito‘, und das hat mir dann gleich wieder gereicht.

Ich habe angefangen, Ernst herbeizusehnen, ich dachte, scheiß doch der Hund drauf, dass er nur mein Geliebter ist und nicht mein Freund, hoffentlich kommt er bald aus dem Skiurlaub zurück, damit ich mir mit ihm die Bettdecke übern Kopf ziehen kann. Ich dachte, Mensch, ich fahre am Abend nach der Arbeit nicht nach Hause, sondern gleich zu Ernst, auf meinem schönen roten Rennrad, ich dachte, heute muss er doch aus dem Skiurlaub kommen, die 14 Tage sind doch heute rum. Ich war ganz besessen von der Idee. Ich habe Feierabend gemacht und das Café abgeschlossen, und wie ich zu dem Fahrplan der Bahn komme, an dessen Metallrahmen ich immer mein schönes rotes Rennrad anschließe, da hing da nur noch das durchgesägte Schloss und mein schönes rotes Rennrad war weg.“

„Ich halt’s nicht aus“, stöhnt die Palmenberg leise und stützt ihren Kopf erschöpft in die Hand, ihre Schreibhand, mit der sie schon lange nicht mehr mitschreibt.

„Genau dasselbe hab ich auch gedacht“, sagt Hendrikje, die Palmenbergs Bemerkung als Mitgefühl missversteht. „Also ganz abgesehen davon, dass es ein Koga-Miyata war, das mal 2000 Mark gekostet hatte …“

Die Palmenberg schaut Hendrikje an und fatalisiert: „Vielleicht mit ’ner kleinen Campagnolo-Ausrüstung …?“ Hendrikje bestätigt das: „Ja, genau, mit einer Titan-Campagnolo-Ausrüstung, Sie kennen sich ja aus!“

„Natürlich kenne ich mich aus“, seufzt die Palmenberg müde. „Und ich verstehe nicht, wie man ein Koga-Miyata am Bahnhof stehen lassen kann.“

Hendrikje horcht auf und verstummt. Darauf also will die Palmenberg hinaus: Dass alles immer ihre, Hendrikjes, Schuld sein soll, sogar der Diebstahl ihres Fahrrads. Sehr einfach, was die Lady da macht, sehr einfach.

Doktor Palmenberg erinnert sich an ihre Bestimmung und rappelt ihren Oberkörper mühsam wieder hoch. Sie macht ein diszipliniertes Gesicht. „Weiter.“

Hendrikje reckt langsam und stolz ihr Kinn in die Höhe und überlegt, ob die Palmenberg weiteren Atem wert ist. Und berichtet der leidgeprüften Psychologin in überlegenem Ton, was weiter geschah: „Ich bin dann zu Ernsts Wohnung gelaufen. Ich hab bei ihm geklingelt, aber es hat keiner aufgemacht, also hab ich mich auf die Stufen vor dem Haus gesetzt und gedacht: Ich kann ja ein bisschen warten, vielleicht kommt er ja noch. Es fing an zu schneien, und ich saß auf den Stufen und guckte zu, wie der Schnee in den Autoscheinwerfern vorbeijagte und auf der Straße liegen blieb, und merkte noch, wie alles leiser wurde. Das war der Schnee, der die Straße und die ganze Stadt ganz leise machte, und ich weiß noch, dass ich das schön fand und dachte: Siehste Hendrikje, du hast immerhin noch so viel Nerven, dass du das genießen kannst, das Leben geht also weiter.

Dann wurde es mir langsam kalt, und als ich schon überlegte, dass ich nun aber doch bald mal heimgehen müsste, da stand Ernst plötzlich vor mir. Mit seinen Skiern über den Schultern, braun gebrannt und seine Reisetasche in der Hand, und ich war wie erlöst.

,Was machst du denn hier?!‘, fragte er mich und sah nicht so aus, als würde er sich übermäßig freuen.“

Richtig schlechte Tage gibt es, da sollte man sich nicht in Tasche lügen. Ob man dabei die Schuld bei sich selbst oder bei der Umgebung sieht, macht allerdings einen großen Unterschied aus – im ersten Fall kannst du etwas dagegen tun, im zweiten in der Regel nicht.

Gut, mal ein schlechter Tag, das ist zu verkraften. Fil Tägert erzählt in seinem Buch über eine ununterbrochene Serie von solchen. Ein Arbeitsklima, das man durchaus „toxisch“ nennen kann.