Eltern bemühen sich in der Regel, ihren Nachwuchs zu fördern, liebevoll zu fordern und letztlich fortgehen zu lassen. In der folgenden Kurzgeschichte wird deutlich, dass das nicht immer gezielt und bewusst ablaufen muss. Hier scheint es eher die Energie des Unausgesprochenen zu sein, die eine Heranwachsende beflügelt.
Lesedauer gut zehn Minuten
Wieder einmal kam Mama nachts zurück. Sie beugte sich über mich, küßte mich zwischen die Augen, und mir wurde schlecht von ihrem Geruch nach ranziger Yakbutter, nach Qualm und verdorbenem Magen. Noch halb im Schlaf tippte ich auf Tibet oder Nepal. So widerlich konnte nur jemand riechen, der geradewegs aus Zentralasien kam.
Am nächsten Morgen saß sie am großen Tisch im Eßzimmer und rührte Gerstenmehl in ihren Tee.
„Morgen, Schätzchen“ sagte sie, als ich hereinkam, „ist es nicht längst Zeit für die Schule?“
„Wir haben Ferien“, sagte ich. Ich begann im Eßzimmer herumzulaufen und ihre Sachen aufzusammeln, die sie in der Nacht einfach überall hingeschmissen hatte. Matschverkrustete Goretex-Klamotten, Alutöpfe mit angetrockneten Gerstenbreiresten, ein Spezialkocher, die Fotoausrüstung und ihre stinkenden Bergschuhe waren über das ganze Zimmer verteilt. Immerhin hatte sie es noch geschafft, ihren Schlafsack draußen über das Verandageländer zu hängen. Er war bestimmt voller Läuse.
Ich schleppte alles hinaus auf die Veranda. Nur mit dem Kochgeschirr lief ich ins Badezimmer. Ich stellte es in die Wanne und ließ heißes Wasser darüberlaufen.
„Setz dich hin“, sagte Mama, als ich zurück ins Eßzimmer kam. Sie zeigte auf den Stuhl neben sich.
„Hast du irgend etwas mitgebracht, wovon ich wissen sollte?“ fragte ich und setzte mich ans entgegengesetzte Ende des Tisches. „Läuse, Krätze, Ruhr, Dengue-Fieber?“
„Ich glaube nicht“, sagte Mama. „Nur Blasen an den Füßen.“
Ich rückte ein paar Stühle weiter vor.
Ich trank meinen Kakao und sah zu, wie sie ihren Tee schlürfte. Sie hatte einen Klumpen Yakbutter in einer schmierigen Plastiktüte vor sich liegen. Davon drehte sie mit den Fingern kleine Stückchen ab, warf sie in den Tee und rührte um, bevor sie den Tee trank.
„Mama“, sagte ich schließlich, „wir müssen dir die Haare waschen!“
Während ich fast eine ganze Flasche Pfirsichöl-Pflegespülung in ihre verfilzte Matte einmassierte, erzählte Mama ungefragt von Steinschlägen am Annapurna, Überschwemmungen im Rolwalingtal und Schneestürmen in Solo Khumbu. Sie erzählte von den Wäldern Osttibets, wo es Blutegel regnet, von chinesischen Dorfgefängnissen und betrunkenen Polizisten, von Bussen, die in tiefen Schluchten zerschellen und von den schwarzgefrorenen Gesichtern der Bergsteiger, die in den verrotteten Absteigen von Lukla im Everest-Gebiet auf ihren Rückflug nach Kathmandu warten. Sie erzählte davon, wie die Höhenkrankheit ihr Gehirn aufweichte, als sie versuchte, den Pumori zu besteigen, und von der dünnen Luft des Himalaja, die das Blut träge macht und an der sich die Lungen wundatmen.
Zwei Stunden später hatte ich den letzten Knoten aus ihren Haaren gekämmt und allen Blasen an ihren Füßen aufgestochen und desinfiziert. Dann war Mama wieder so müde, daß sie sich aufs Sofa legte und sofort einschlief.
Das Telefon klingelte. Es war Arne von Trekking Guides. „Hallo“, sagte Arne. „Ist sie da?“
„Sie schläft“, sagte ich, „und will nicht gestört werden. Schon gar nicht von euch.“
„Sie soll nicht so viel schlafen, lieber schreiben“, sagte Arne.
Ich legte einfach auf.
Ich kochte Kaffee für Papa. Dann brachte ich Papa den Kaffee, eine Schüssel Cornflakes und seine Thrombosespritze auf einem Tablett ans Bett.
Im Schlafzimmer war es kühl und dunkel. Aber Papa war schon wach. Sein Laptop warf einen grünlichen Schimmer über die zerwühlte Bettdecke. Papa nannte das, was er machte, Telearbeit, das heißt, er hatte einen Internetanschluß und einen E-mail-account und brauchte nie aufzustehen. Ich stellte das Frühstück neben den Laptop auf sein Bett.
„Sie ist wieder da“, sagte ich.
„Hab’s gehört“, sagte Papa.
„Willst du wissen, wo sie war?“ fragte ich.
„Es stinkt nach ranzigem Fett. Grönland?“ riet Papa.
„Nepal“, sagte ich. „Und Tibet. Tibet ohne Einreiseerlaubnis. Sie mußte sich nachts über die Grenze schleichen. Sie mußte in Nomadenzelten wohnen und sich in verlassenen Bergdörfern verstecken. Einmal hat sie ein Polizist gefunden und ins Gefängnis gesteckt, aber sie hat ihn mit Tschang betrunken gemacht und ist abgehauen.“
„Betrunken gemacht?“ Papa lachte und schwitzte. „Mit ihm gebumst wird sie haben. Mit einem dreckigen, besoffenenChinesen.“
Ich nahm die Thrombosespritze, zog die Schutzkappe von der Nadel, schlug die Decke zurück, drückte etwas von Papas Bauchfett mit zwei Fingern zusammen und gab ihm eine Injektion in die Fettrolle.
„Das ist lieb!“ sagte Papa. „Bringst du mir das Bildtelefon?“
Mit der Telearbeit hatte Papa angefangen, als Mama für Trekking Guides zu arbeiten begann. Ihren ersten Reiseführer schrieb Mama über den Kaukasus, als ich sechs war. Wir bekamen Postkarten aus dem Gebirge, die andere Reisende für sie in Jerevan oder Tiflis eingesteckt hatten. Manchmal aber hörten wir wochenlang gar nichts von ihr. Als sie wiederkam, brachte sie literweise Armagnac mit und riesige Büschel eines Krauts mit lilafarbenen Blättern. Diese Blätter kaute sie ununterbrochen und tat sie an jedes Essen. Nachts kam sie an mein Bett und erzählte stundenlang von ihren Wanderungen mit den Schafhirten und ließ mich nicht schlafen. Sie erzählte auch von einem Hirten namens Dimitri, in den sie sich verliebt hatte.
Ein paar Monate später verschwand sie wieder. Diesmal, um auf Spitzbergen zu überwintern. Sie teilte ihre Hütte mit Einar, einem Pelztierjäger, der halb Norweger, halb Eskimo war. Von dieser Reise brachte sie fünf Blaufuchsfelle mit, die sie mir vors Bett legte, und diesmal erzählte sie nächtelang vom Packeis, vom Geschmack des schwarzen Seehundfleisches, den Schrecken der langen Polarnacht und den schönen Ablenkungen, mit denen Einar sie während der monatelangen Finsternis vor dem Verrücktwerden bewahrt hatte.
Das war die Zeit, als Papa mit der Telearbeit begann.
Am Nachmittag suchte ich Mama im ganzen Haus. Ich fand sie in der Dunkelkammer. Ich riß die Tür auf und ruinierte einen Abzug. „Mach die Tür hinter dir zu“, sagte Mama. „Hat Arne angerufen?“
Ich gab keine Antwort. Arne von Trekking Guides war der Mensch, den Papa und ich von allen Menschen auf der Welt am meisten haßten.
Mama machte das Licht am Vergrößerungsapparat an und wieder aus. Sie nahm das belichtete Papier und legte es in die Wanne mit der Entwicklerflüssigkeit. Nach und nach erschien ein Gesicht auf dem Papier. Mama stupste es mit der Zange unter, als wolle sie es ertränken. Dann kam es in den Stopper und zum Schluß ins Fixierbad. Ich stellte mich neben Mama. Das Gesicht auf dem Foto war dunkel und glänzte fettig.
„Das ist Lopsang“, sagte Mama.
„Deine Mutter ist eine verdammte Ethno-Nutte!“ schrie Papa, als ich ihm von Lopsang erzählte. „Bald wird sie sie gar nicht mehr zählen können, die Eskimos, die Indios, all die Madenfresser. Und jetzt hat sie sogar noch einen Yeti in ihrer Sammlung. Herzlichen Glückwunsch!“
»Also, ein Yeti ist er nicht, Papa“, sagte ich, „er ist ein Sherpa.“
„Mir scheißegal, was dieser Yaktreiber ist! Ich werde jetzt aufstehen und ihr die Meinung sagen. Ich will, daß sie diesen Zuhälter Arne anruft und ihm sagt, daß sie nie wieder für ihn als Trekking-Hure arbeiten wird!“
Er richtete sich mit einem Ruck auf. Ein scharfer Geruch nach Wick Vapo Rub, womit ich ihm gegen seine Atembeschwerden regelmäßig die Brust einrieb, schlug mir entgegen. Papa schnaufte und wischte sich ein paar feuchte Strähnen aus dem Gesicht.
„Nein, mach du das lieber!“ keuchte er und ließ sich zurück in die Kissen fallen. „Und sag ihr, sie soll kommen und mir guten Tag sagen.“
Ich ging und nahm die volle Bettpfanne mit.
Wie immer am ersten Tag nach Mamas Rückkehr lief ich ununterbrochen zwischen meinen Eltern hin und her. Wie immer verbrachte Mama diesen Tag in der Dunkelkammer und den Abend telefonierend in der Badewanne. Und wie immer lag Papa im Bett und hackte wie verrückt auf seinen Laptop ein.
Als ich die Zinksalbe aus dem Bad holen wollte, um Papas offene Stellen damit einzuschmieren, lag Mama in der Wanne und telefonierte mit Arne. Ich setzte mich leise auf den Wäschepuff und hörte zu. Ich schaute mir ihren Körper an: Er war sehr dünn, muskulös, übersät mit blauen Flecken und Insektenstichen, und an vielen Stellen konnte man die Adern sehen. Jeden Tag saß ich auf dem Hometrainer, damit ich auch solche Muskeln bekäme wie sie.
„Neue Steigeisen und einen Daunenanzug von Mountain Equipment“, sagte Mama zu Arne, „ein Dreimannzelt von Wild East, Eisschrauben und 1000 Meter Seil. Mein Eispickel muß nur geschärft werden, aber ich brauche noch zwei dazu. Und dreißig Flaschen Sauerstoff.“
„Wo willst du hin, Mama?“ fragte ich.
„Moment mal“ sagte Mama zu Arne. Dann hielt sie Sprechmuschel zu und sagte zu mir: „Mit Lopsang auf den Everest.“
Seit den Vorbereitungen für ihre Neuguinea-Expedition, die sie zu den Menschenfressern in die Sümpfe von Irian Jaya geführt hatte, war Mama nicht mehr so voller Reisefieber gewesen. Zwei Tage lang saß sie über Landkarten gebeugt am Küchentisch und legte Routen fest. Während ich kochte und abwusch, arbeitete sie einen Akklimatisationsplan aus. Sie blätterte und kritzelte in ihrem Kalender herum und versuchte zu berechnen, wie sie ihren Körper am besten den Bedingungen in achttausendachthundertachtundvierzig Metern Höhe über dem Meeresspiegel anpassen könnte. Zwischendurch telefonierte sie immer wieder mit Kathmandu. Die restliche Zeit verbrachte Mama auf dem Hometrainer, oder sie joggte im Park. Morgens nahm sie mich mit ins Hallenbad.
Sie hatte Papa noch immer nicht guten Tag gesagt. Wenn er nach ihr schrie, ging ich zu ihm und gab ihm Johanniskrauttropfen. Wenn er dann immer noch schrie, gab ich ihm Diazepam.
Eines Nachts wachte ich auf, weil mir einfiel, daß Papa seine Einschlafmilch nicht bekommen hatte. Vielleicht weckte mich aber auch das kratzende, schabende Geräusch, das aus der Küche kam. Von Zeit zu Zeit gab es ein Quietschen, wie von einem Messer, das auf einem Teller abrutscht. Ich lief über den dunklen Flur. Hinter Papas Tür brannte noch Licht. Wahrscheinlich konnte er nicht ein schlafen ohne seine Milch. In der Küche sah ich Mama sitzen und ihren Eispickel schleifen, sie saß da, in voller Goretex-Montur, drehte mit einer Hand den Schleifstein und hielt mit der anderen die Spitze des Pickels dagegen. Es kratzte und schabte, und Funken sprühten. An ihrem Stuhl lehnte der fertiggepackte Rucksack mit dem baumelnden Kochgeschirr daran. Als Mama mich sah, hörte sie auf zu schleifen.
„Was machst du denn hier?“ fragte sie, „warum bist du nicht im Bett?“
„Ich hole nur Papas Milch.“
Der Schleifstein drehte sich weiter. „Arne holt mich in einer Viertelstunde ab und bringt mich zum Flughafen“, sagte Mama.
„Gut“, sagte ich. Dann lief ich zurück in mein Zimmer. Ich holte meinen Rucksack unter dem Bett hervor, riß den Schrank auf, stopfte Pullover, Hosen, Unterwäsche, den Skioverall und meine Schneebrille in den Rucksack. Ich zog das Nachthemd aus und einen Trainingsanzug an, darüber die Daunenjacke. Mit dem Rucksack auf dem Rücken lief ich über den Flur. Hinter Papas Tür hörte ich es schnaufen.
„Liebes“, rief Papa, „bist du’s? Hast du meine Milch vergessen?“
Ich rannte in die Küche, holte die Milchtüte aus dem Kühlschrank, ein Glas aus der Anrichte und goß so hastig ein, daß etwas auf den Boden kleckerte. Als ich die Tabletten aus der Packung in die Milch drückte, vergaß ich mitzuzählen. Mama sah mir zu.
Mit dem Glas in der Hand lief ich ins Schlafzimmer. „Hier ist deine Milch, Papa“, sagte ich. Papa hing schief in den Kissen, und sein Schlafanzug war falsch zugeknöpft. Es sah unbequem aus.
„Wo willst du hin mit dem Rucksack?“ fragte Papa, und das hatte mich noch niemand gefragt.
„Meinen ersten Achttausender besteigen“, sagte ich.
Als wir im Trekking Guides-Jeep saßen und die Straße hinunterfuhren, schaute ich noch einmal zurück. Ich hatte das Licht in der Küche nicht ausgeschaltet. Und gerade, als ich zurückschaute, schob sich ein Schatten vor das erleuchtete Küchenfenster. Der Schatten füllte das Fensterviereck ganz aus. Es war ein sehr großer, sehr breiter, ein riesiger Schatten. Es war wie eine totale Sonnenfinsternis. Papa war aufgestanden.
In der Malerei bereitet die bewusste Entscheidung für den ersten Strich alle folgenden vor, auch wenn dieser erste wieder übermalt wird. Beim Schreiben ist es der erste geschriebene Satz, der den Text bestimmt – auch wenn dieser erste Satz wieder gelöscht wird. Es ist nicht immer einfach, der Vorgesetzten, dem Kunden die Komplexität eines Textes und seines Aufbaus zu vermitteln. Als Schreibende:r muss man damit leben, dass die eigene Genialität manchmal nicht anerkannt wird, und das führt zu Leiden. Leider part of the deal.
1 Gedanke zu „„Mein erster Achttausender“ aus „Leichte Mädchen“ von Malin Schwerdtfeger (2001)“
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