Der Erzählerin aus Nordrhein-Westfalen, die hier zu Wort kommt, halfen Phantasie, Sprachbegabung und hellwache Aufmerksamkeit dabei, mit den Zumutungen ihres kindlichen Alltags in den 50er-Jahren klarzukommen. Im Verlauf des Buches sogar der dörflichen Enge und Einschränkung zu entwachsen. Aber zunächst heißt es für sie, den Regeln des Schulbetriebs zu begegnen.
Lesedauer etwa fünfeinhalb Minuten
Auf dem Schulhof mußten wir Zweierreihen bilden wie im Kindergarten, Jungen und Mädchen getrennt, und dann die breite Treppe hochmarschieren, Jungen zuerst, der Lehrer vorneweg.
Mohren heiße er und daß wir uns die Plätze selbst aussuchen durften, Mädchen links, Jungen rechts, wie in der Kirche. Ich war gleich auf den Platz direkt vorm Pult gestürzt, doch Gedränge hatte es nur in den hinteren Bänken gegeben. Einzig die Langsamen, Zögerlichen, Nachgiebigen mußten schließlich nach vorn.
Alles an Lehrer Mohren war rund, Bauch, Kopf. Gesicht, rund und weich, bis auf die Nase, die wie ein Blitz aus heiterem Himmel spitz und lang aus all dem Runden und Weichen hervorzuckte, so wie sein Jähzorn, der jederzeit unverhofft aus seinem gütigen Temperament herausbrechen konnte.
Unsere Namen mußten wir ihm sagen, wo wir wohnten und was unsere Väter taten.
Dä jeht op Arbeed bei Krötz und Ko., sagte ich.
Ungelernter Arbeiter, murmelte Mohren. Ungelernt? Wieso ungelernt? Der Vater konnte Bäume pfropfen und Schule besohlen, Fahrräder flicken und Schuppen bauen, die Nachbarn holten sich Rat bei ihm, wenn die Rosen Rost hatten oder Mehltau, und die Verwandtschaft bewunderte sein Gedächtnis. Der Vater war ein Arbeiter. Aber ungelernt? Der Lehrer hatte es in ein dickes Heft geschrieben, Klassenbuch nannte er das, neben Namen und Adresse, also mußte es stimmen. Der Vater war ungelernt. Ich würde lernen. Durch das Fenster schien kräftige Aprilsonne, auf ihren Strahlen tanzte der Kreidestaub. Lernen. Alles.
Wen hat ehr dann en dä Scholl? empfing mich die Mutter schon an der Tür.
Dä Mohren, sagte ich.
Do mußte oppasse, dat es ene jähzornije Minsch, sagte die Mutter. Seit dä die Malaria hätt. Sing Anfäll.
Wat es dat, Malaria, fragte ich. Das Wort gefiel mir.
En Krankheet, sagte die Mutter. Usm Kreesch. Aus dem Krieg.
Na Jott sei Dank, nit dä Zömperling, sagte die Tante, die immer zufällig vorbeikam, wenn es Reibekuchen gab.
Dä Mohren setz dä Kenger ken Rosine en dä Kopp, ergänzte die Großmutter. Dä weeß, wo mer hinjehürt. Nit wi dä Zömperling.
Da Zömperling, dä is doch Kummeniß, Kommunist, sagte die Tante kauend und sah sich witternd um.
Wat es dat, kumme Mist? fragte ich. Ein freches Wort, ein Schimpfwort wie Drecksmist.
Kum me niß hesch dat, wiederholte die Tante. Doför bes de noch ze kleen.
Kumenisse sin Russe, beschied mich die Großmutter. Un Schinese. Die jelbe Jefahr. Un die rote. Düvel. Feinde Jottes. Die schaffe de Kersche aff und sperre de Kattolische en.
Ich wußte, wie Zömperling aussah: groß, dünn und blond. Sonntags ging er ins Hochamt. Eine Gefahr?
Treck desch öm, sagte die Mutter. Ich zog den dunkelblauen Faltenrock aus und den hellblauen Pullover. Er war wie alle unsere Pullover im Perlmuster gestrickt, das aufgeribbelte Wolle aussehen ließ wie neu. In meinem alten Kittel durfte ich nun auch an die Reibekuchen.
Die Tante schenkte mir zum ersten Schultag einen Bleistift mit Radiergummi; die Großmutter ein Bildchen der heiligen Hildegard, zuständig für Gelehrsamkeit. Ich schenkte dem Bruder einen Kringel aus meiner Schultüte. Abends zeigte mir der Vater das neue Stöckchen hinter der Uhr. Es war mit mir gewachsen. Mindestens doppelt so dick wie die Schilfrohrstöckchen aus der Kindergartenzeit, die alle paar Monate auf den Sonntagsspaziergängen mit den Eltern erneuert worden waren. Das neue Stöckchen war aus Holz und himmelblau bemalt.
Es et nit schön? lachte der Vater und balancierte das Stöckchen senkrecht auf der Handfläche. Doför bes de jitz alt jenuch. Er hieb ein paarmal in die Luft. Es sauste. Pas op, dat de Färv nit affjeht. Die Farbe nicht abgeht.
Kurz vorm Schlafengehen nahm mich der Großvater beiseite und drückte mir etwas in die Hand. Dabei sah er mich an wie seine älteste Tochter, die Tante aus Elberfeld, wenn die wieder wegfuhr.
Es war der schönste Buchstein. Blendend weiß mit roten Linien, Schlingen und Schleifen, Kringeln und Krähenfüßen auf der einen, goldenen auf der anderen Seite. Da drauf, sagte der Großvater, stehen wunderbare Jeschischten. Immer neue. Soling de lävs. Solange du lebst.
Der nächste Schulmorgen begann mit einem ,Vater unser’. Im Stehen. Alle Kinder aus den Kindergarten beteten lauthals mit, und der Lehrer machte hinter unsere Namen mit schwarzer Tinte einen Punkt. Schwarze Punkte, erklärte er, waren gute Punkte. Rote schlechte. Auch der liebe Gott, wußte ich von der Großmutter, führte Buch über gute und schlechte Taten. Als ich sie gefragt hatte, wieso er sich das aufschreiben müsse, wo er doch allwissend sei, hatte sie den Spüllappen nach mir geworfen und mich Düvelsbrode genannt. Über meinen himmlischen Punktestand war ich ständig im ungewissen. Ein Klassenbuch war eine klare Sache.
Scharrend drückten wir uns in die Bänke.
Wer von euch kann denn schon, Lehrer Mohren zog die Augenbrauen hoch, zwei Rundungen mehr in seiner runden Gesicht – wer von euch kann denn schon bis zehn zählen?
Kurtchen Küppers ratterte bis zwanzig und über dreißig hinaus, bis Mohren abwinkte. Kurtchen Küppers bekam einen zweiten schwarzen Punkt.
Und wer kann – wieder ließ der Lehrer seine runden Augen über unsere Köpfe rollen, – und wer von euch kann schon lesen. Niemand?
Da hob ich den Finger. Den zweiten schwarzen Punkt vor Augen.
Steh auf! sagte Mohren.
Ich zog meinen neuen Buchstein aus dem Tornister und las in einem Zuge die Geschichte von der grünen Vase vor. Jo, rief Kurtchen Küppers einmal aufgeregt dazwischen, dat stimmt. Die Jeschischte von der Frau un dem Huhn hat die Schwester jenau so verzählt!
Denn wem dat Häz schwer es, dem is alles schwer. Un wem et leischt is, dem is alles leischt, schloß ich und sah den Lehrer erwartungsvoll an.
So, sagte Mohren. Das hast du also gelesen. Das steht alles auf diesem Stein da?
Ja, sagte ich, dat is ene Boochsteen.
Ein Buchstein? Ja, sagte ich. In der Klasse wurde es unruhig.
Ruhe, donnerte Mohren. Setzen. Einen schwarzen Punkt gab es nicht
Nach der Stunde hielt mich der Lehrer zurück, betrachtete mich und den Stein, kopfschüttelnd, schnaufend. Viele Buchsteine habe ich noch zu Hause, am Rhein könne man sie finden, mein Schutzengel habe sie beschrieben, und diesen besonders schönen habe mir gestern der Großvater geschenkt.
Lehrer Mohren räusperte sich. Nun, sagte er, es gibt viele Arten zu lesen. Steine werden anders gelesen als das, was auf dem Papier steht. In der Schule, mein Kind, wird nur gelesen, was auf dem Papier steht. Mit dem Großvater kannst du weiter von deinen Buchsteinen lesen. Mohren gab mir den Stein des Großvaters zurück und strich mir über den Kopf. Auch dies mußte wohl an dem herrlichen Stein liegen.
Eine Weisheit von Nelson Mandela: „Wenn du mit einem Mann in einer Sprache sprichst, die er versteht, geht ihm das in den Kopf. Wenn du in seiner Sprache mit ihm sprichst, geht ihm das ans Herz.“ Dialekte oder mindestens Dialektfärbungen, aber auch Subkultursprache schaffen Nähe – auch wenn dieses Stilmittel in ganz geringen Dosen eingesetzt wird. Ein Fahrrad hat eine andere Gefühlsfärbung als ein Velo oder ein Rad. Der Atlas der deutschen Alltagssprache bietet hier interessante Anregungen.
Probleme hatte ich immer mit Produkten, deren Versprechen Status war. Weshalb soll ich, wenn eine bestimmte Zigarettenmarke rauche oder eine bestimmte Uhren- oder Jeansmarke trage, besser sein als jemand anderer? Das ging mir nie in den Kopf.
Natürlich habe ich für solche Produkte auch gearbeitet – man muss ja sein Geld verdienen, und leider kann man sich nicht alles aussuchen. Insofern bin ich eher der Typ „Nennen wir es doch professionelle Distanz“. Nennt mich Opportunist.
Beat