Es kann schon mal vorkommen, dass ein klar formulierter Auftrag beim Adressaten nicht auf Gegenliebe stößt. Im folgenden Fall provoziert er sogar Widerspruch. Was den Auftraggeber jedoch nicht hindert, auf seinem Wunsch zu bestehen. Das führt zu einem Wortgefecht, das nicht nur der Leserschaft Vergnügen bereitet, sondern auch erstaunlich überzeugende Auswirkungen für die Beteiligten schafft.
Lesedauer etwa sechseinhalb Minuten
Als er diese zweite Flasche anbrach, war sie plötzlich da. Sie ließ sich ihm gegenüber auf den anderen Stuhl fallen und musterte ihn kritisch. Sie war groß, kräftig und schön. Er hatte noch den Flaschenhals im Mund, als sie ihn ansprach:
„Ist es da nicht ein bißchen früh für?“
Herr Lehmann setzte die Flasche ab. „Wofür?“
„Beides. Bier und Schweinebraten.“
„Find ich nicht.“ Herr Lehmann wußte, daß dies ein harter Kampf werden würde, der seine ganze Konzentration erforderte. Darum nahm er seinen Blick von ihrem großen Busen und begann schon einmal, seine Argumente zu sortieren.
„Das merke ich“, sagte sie trocken.
„Was wofür früh ist, und was wofür spät ist“, begann Herr Lehmann eine Stegreiftheorie zu entwickeln, „ist allein Gegenstand der gesellschaftlichen Verabredung. Oder sagen wir mal so …:“, wechselte er die Richtung, um gar nicht erst auf die schiefe soziologische Bahn zu geraten, „wenn es okay ist, daß hier so Volldeppen bis 17 Uhr frühstücken, dann wird es ja wohl auch okay sein, um elf Uhr einen Schweinebraten zu bestellen.“
„Ich würde es lieber anders herum ausdrücken“, kam es unbeeindruckt aus dem Mund der schönen Frau, die, wie Herr Lehmann jetzt bemerkte, eine richtige Arbeitskleidung trug, eine, wie man sie sonst nur von Fernsehköchen kannte, eine weiche Hose mit kleinen weißen und blauen Karos und ein weißes, langes Kittelhemd, das seltsam geknöpft und blütenrein weiß war, im Gegensatz zu dem schmutzigen Lappen, der an einer dünnen Kette um ihre vollen Hüften baumelte, was man aber jetzt, da sie saß, nur sehen konnte, wenn man genauer hinsah, was Herr Lehmann kurz einmal tat, „wenn die Welt schon mit Arschlöchern vollgestopft ist, die bis 17 Uhr frühstücken, wieso brauchen wir dann auch noch Knallchargen, die um elf Uhr schon Schweinebraten bestellen?“
Herr Lehmann war begeistert. So hatte er noch nie eine Frau reden hören. Eigentlich wollte er überhaupt keinen Schweinebraten mehr, aber wenn sie so mit ihm sprach, hatte er natürlich keine Lust, die Sache fallenzulassen.
„Was ist schon dabei, einen Schweinebraten zu machen?“ fragte er. „Der ist doch sowieso von gestern abend, da schneidet ihr doch nur was ab, ein bißchen kalte Soße drüber und ab in die Mikrowelle, das kenne ich doch, da erzählt mir keiner was.“
„Soso, da erzählt dir keiner was!“ sagte sie unbeeindruckt und steckte sich eine Zigarette in den Mund. „Kannst du mal den Aschenbecher rüberschieben?“
Herr Lehmann schob ihr den Aschenbecher rüber. „Nein, da erzählt mir keiner was.“
„Und wenn ich dir sage, daß kein Schweinebraten von gestern abend da ist? Was ist dann?“
Herr Lehmann hätte jetzt doch gern die Unterhaltung in andere Bahnen gelenkt. Warum, dachte er, kann ich nicht mit ihr darüber reden, wie alt sie ist, wie sie heißt und was sie macht, wenn sie heute fertig ist?
„Dann sage ich, daß es jetzt vielleicht erst Viertel nach elf ist, aber ab halb eins geht hier der normale Mittagessenscheiß los, und dann braucht ihr sowieso Schweinebraten.“
„Und wenn ich dir sage, daß ich auch nicht von gestern bin, und daß der Schweinebraten schon im Ofen ist, und daß der noch eine Stunde braucht, und daß du bis dahin höchstens so ein Scheißfrühstück haben kannst wie die anderen Penner hier auch“ – sie wedelte mit der Zigarette in der Luft herum, als wollte sie den ganzen Raum segnen, und alles was darin war, und außerdem erhob sie die Stimme, damit, wie es Herrn Lehmann schien, alle etwas davon hatten, „diese ganzen Brötchenkauer hier mit ihrer Scheißwurst und ihrem Scheißkäse und dem ganzen Mist, der hier so über den Tisch geht, wenn ich dir also sage, daß du höchstens irgend so einen Quatsch haben kannst und daß, wenn du gerne Schweinebraten essen willst, du vielleicht um halb eins, wo ja, wie du zu wissen scheinst, das Mittagessen hier losgeht, du gerne noch einmal anklopfen kannst, aber ganz nett, und daß du dann vielleicht einen richtig guten Schweinebraten, wenn nicht gar den Schweinebraten deines Lebens haben kannst, bis dahin aber vielleicht sowieso zu besoffen bist, um das noch zu merken, wenn ich dir das sage, was sagst du dann, du …“ – sie beugte sich vor und pustete Zigarettenrauch aus – „… Klugscheißer?“
Es verstrichen einige Sekunden, in denen Herr Lehmann sich entscheiden mußte, wie er weiter vorgehen sollte. Sollte er einlenken? Sollte er zugeben, daß sie recht hatte? Sollte er ein amerikanisches Frühstück bestellen? Sollte er einfach das Thema wechseln? Sie etwa fragen, ob sie über ihren schwarzen Haaren, die sie hinten zusammengebunden hatte, in der Küche auch eine Kochmütze trug? Andererseits: Sollte er sich wirklich widerstandslos als Klugscheißer bezeichnen lassen?
„Zum Beispiel“, sagte er, „würde ich sagen, wenn ich denn gefragt werde, daß es hier sonntags um zehn Uhr losgeht, und daß die Küchenleute, zu denen du ja wohl gehörst, bestimmt schon um halb zehn hier sind, und daß, wenn du um halb zehn einen Schweinebraten vorbereitest, dieser Schweinebraten ja wohl um elf Uhr so weit fertig sein müßte, daß man ein Stück davon abschneiden kann, und scheiß auf die Kruste, ich nehm ihn auch ohne Kruste, und von Knödeln wollen wir gar nicht reden, Bratkartoffeln sind auch okay, und Bratkartoffeln habt ihr sowieso, die sind ja auch bei diesem amerikanischen Frühstück dabei, daß also der Schweinebraten schon so weit sein müßte, daß man ein Stückchen, es müßte ja nur das äußerste sein, für mich abschneiden könnte, egal, ob die Kruste noch nicht kroß ist, da scheiß ich drauf, ich finde sowieso, daß die Kruste überschätzt wird, daß man ein paar Bratkartoffeln dazu tun könnte, Soße findet sich immer, und fertig ist das Gartenhäuschen, das würde ich sagen …“, auch Herr Lehmann beugte sich nun vor, „… Klugscheißer, der ich nun mal bin!“
Es folgte eine kleine Pause, in der sie ruhig und unbeeindruckt rauchte und ihn beobachtete. Herr Lehmann wünschte sich plötzlich, er würde auch rauchen. Vor allem aber wünschte er sich, er würde nicht einen solchen Unsinn daherreden. Das ist doch alles Quatsch, sie muß mich ja hassen, dachte er, ich würde mich jedenfalls hassen, wenn ich Koch wäre und mir jemand mit so einem Scheiß kommen würde, dachte Herr Lehmann.
„Soso, auf die Kruste kommt es also nicht an“, sagte sie schließlich.
„Nein, auf die Kruste kommt es nicht an.“ „Dir nicht oder allgemein nicht?“ „Allgemein ist mir egal.“ „Gibt’s hier noch mehr von deiner Sorte?“ „Nein.“
„Na“, sagte sie, drückte ihre Zigarette aus und stand auf, „dann ist ja gut.“
„Okay“, sagte Herr Lehmann, der nicht wollte, daß sie schon ging, „dann warte ich noch ein bißchen. Ist ja sowie so bald halb eins.“
„Ich kann natürlich auch einen halbfertigen Schweinebraten aus dem Ofen ziehen und verstümmeln. Weil wir so gute Freunde sind.“
„Nein, nein, das muß nicht sein, ist nicht so wichtig.“
„Was bist du eigentlich? So ’ne Art Bundeskanzler, oder was?“
„Schon gut, schon gut.“
„Also mir ist das eigentlich scheißegal. Kann ich ja in Zukunft immer machen. Demnächst gibt’s dann auch noch halbgekochte Kartoffeln für alle.“
„Nein, wirklich, keine Umstände! Ich nehm erst mal noch ein Bier. Vielleicht lese ich auch eine Zeitung. Oder einen Kaffee.“
Sie blieb noch kurz stehen. Ihre Blicke trafen sich und Herr Lehmann glaubte zu sehen, daß sie ihn nicht wirklich haßte, was ihn sehr erleichterte. Dann lächelte sie.
„Trink nicht so viel“, sagte sie und tippte, als sie an ihm vorbeikam, ganz kurz mit dem Finger auf seine Schulter. „Der Tag ist noch lang.“
„Ja“, sagte er und wollte noch etwas hinzufügen, aber er wußte nicht was, und sie war schon wieder in der Küche verschwunden. Herr Lehmann seufzte und trank sein Bier aus. Dann bestellte er sich einen Kaffee. Der Tag war noch lang. Er hatte sich verliebt.
Glaubwürdige Dialoge schreiben ist eine knifflige Angelegenheit: Es gibt kaum eine Textsorte, die so überzeugend wirken kann; leider gibt es aber auch kaum eine Textsorte, die einem so schnell die Hose auf die Knöchel plumpsen lässt. So kann beispielsweise der gut gemeinte, aber nicht gut gemachte Einsatz von »Jugendsprache« schnell als Anbiederung verstanden werden, vor allem wenn der Absender eine Bank oder eine Versicherung ist.
Die größte Gefahr dräut dabei weniger vom Textenden als vielmehr von der Beurteilenden. Die Lust und die Zeit, sich mit einem Text vertieft auseinanderzusetzen, sind leider meist begrenzt. Ein »disaster check« mit einigen Angehörigen der Zielgruppe lohnt sich inhaltlich für die Schreiberin und ist ein wirksames Argument im Verkaufsprozess.
1 Gedanke zu „„Herr Lehmann“ von Sven Regener (2001)“
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